Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip
land, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die
Einheit des Volkes zu begründen und zu bewahren, wenn
dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und
Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig-
keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen
und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zu-
letzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erlie-
gen ist für Oesterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.

7. Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten be-
steht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politi-
schen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, son-
dern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung
ohne Unterschied der Nationalitäten zu bewahren.2

8. Ueber die Fähigkeit und Würdigkeit einer Nation zur
Statenbildung entscheidet freilich bei dem unvollkommenen
Zustande des Völkerrechts kein menschliches, sondern nur
das Gottesgericht, welches in der Weltgeschichte sich offenbart.
Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten
bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung.

Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er-
füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze
auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Rücksicht
nehmen müssen, mit einem Worte, dasz der Stat volks-
thümlich
sein musz. Eine Statsverfassung, welche zu dem
Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit
nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht
gemäsz ist, ist ein unnatürlicher und ein untauglicher
Körper
. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation
aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer
politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und
kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder
zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine

2 Eötrös, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip
land, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die
Einheit des Volkes zu begründen und zu bewahren, wenn
dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und
Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig-
keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen
und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zu-
letzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erlie-
gen ist für Oesterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.

7. Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten be-
steht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politi-
schen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, son-
dern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung
ohne Unterschied der Nationalitäten zu bewahren.2

8. Ueber die Fähigkeit und Würdigkeit einer Nation zur
Statenbildung entscheidet freilich bei dem unvollkommenen
Zustande des Völkerrechts kein menschliches, sondern nur
das Gottesgericht, welches in der Weltgeschichte sich offenbart.
Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten
bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung.

Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er-
füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze
auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Rücksicht
nehmen müssen, mit einem Worte, dasz der Stat volks-
thümlich
sein musz. Eine Statsverfassung, welche zu dem
Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit
nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht
gemäsz ist, ist ein unnatürlicher und ein untauglicher
Körper
. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation
aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer
politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und
kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder
zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine

2 Eötrös, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0133" n="115"/><fw place="top" type="header">Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip</fw><lb/>
land, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die<lb/>
Einheit des Volkes zu begründen und zu bewahren, wenn<lb/>
dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und<lb/>
Bedeutung mit <hi rendition="#g">einander wetteifern</hi>. Diese Schwierig-<lb/>
keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen<lb/>
und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zu-<lb/>
letzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erlie-<lb/>
gen ist für Oesterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.</p><lb/>
          <p>7. Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten be-<lb/>
steht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politi-<lb/>
schen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, son-<lb/>
dern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung<lb/>
ohne Unterschied der Nationalitäten zu bewahren.<note place="foot" n="2"><hi rendition="#i">Eötrös</hi>, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.</note></p><lb/>
          <p>8. Ueber die Fähigkeit und Würdigkeit einer Nation zur<lb/>
Statenbildung entscheidet freilich bei dem unvollkommenen<lb/>
Zustande des Völkerrechts kein menschliches, sondern nur<lb/>
das Gottesgericht, welches in der Weltgeschichte sich offenbart.<lb/>
Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten<lb/>
bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung.</p><lb/>
          <p>Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er-<lb/>
füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze<lb/>
auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Rücksicht<lb/>
nehmen müssen, mit einem Worte, dasz der Stat <hi rendition="#g">volks-<lb/>
thümlich</hi> sein musz. Eine Statsverfassung, welche zu dem<lb/>
Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit<lb/>
nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht<lb/>
gemäsz ist, ist ein <hi rendition="#g">unnatürlicher</hi> und ein <hi rendition="#g">untauglicher<lb/>
Körper</hi>. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation<lb/>
aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer<lb/>
politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und<lb/>
kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder<lb/>
zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0133] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip land, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die Einheit des Volkes zu begründen und zu bewahren, wenn dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig- keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zu- letzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erlie- gen ist für Oesterreich eine noch nicht überwundene Gefahr. 7. Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten be- steht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politi- schen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, son- dern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung ohne Unterschied der Nationalitäten zu bewahren. 2 8. Ueber die Fähigkeit und Würdigkeit einer Nation zur Statenbildung entscheidet freilich bei dem unvollkommenen Zustande des Völkerrechts kein menschliches, sondern nur das Gottesgericht, welches in der Weltgeschichte sich offenbart. Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung. Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er- füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Rücksicht nehmen müssen, mit einem Worte, dasz der Stat volks- thümlich sein musz. Eine Statsverfassung, welche zu dem Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht gemäsz ist, ist ein unnatürlicher und ein untauglicher Körper. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine 2 Eötrös, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/133
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/133>, abgerufen am 24.11.2024.