Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Besonnenheit wieder findet. In beiden Fällen ist aber das Gebrechen in dem statlichen Organismus so grosz, dasz das- selbe auch den Untergang des Volkes zur Folge haben kann und jedenfalls seine volle Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.
Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensan- sicht, und eine besondere statliche Mission. Das Volk erfüllt diese Bestimmung, indem es dem State das Gepräge seines Wesens verleiht. Das ist das natürliche Recht des Volkes auf eine volksthümliche Verfassung. Die Ver- schiedenheit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der Nationen, und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen beurkundet die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur der Nationen gelegt hat.
Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich, obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher es gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat be- gleitet das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch in seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Um- gestaltungen durch, ohne deszhalb völlig ein anderer zu werden. Wie sehr verschieden war die äuszere Erscheinung des römischen States in den verschiede- nen Perioden seiner Geschichte, und dennoch wie klar stellt sich fortwährend der national-römische Charakter derselben dar. Die königliche, die republikanische, die kaiserliche Statsform entsprechen den verschiedenen Lebensaltern des römischen Volks, in allen aber wird das specifisch-römische Gepräge sichtbar. Die englische Monarchie unter den Tudors unterscheidet sich von der englischen Monarchie unter dem Hause Hannover, wie sich die Entwicklungsstufen des eng- lischen Volkes im XVI. und XVIII. Jahrhundert unterscheiden.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Besonnenheit wieder findet. In beiden Fällen ist aber das Gebrechen in dem statlichen Organismus so grosz, dasz das- selbe auch den Untergang des Volkes zur Folge haben kann und jedenfalls seine volle Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.
Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensan- sicht, und eine besondere statliche Mission. Das Volk erfüllt diese Bestimmung, indem es dem State das Gepräge seines Wesens verleiht. Das ist das natürliche Recht des Volkes auf eine volksthümliche Verfassung. Die Ver- schiedenheit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der Nationen, und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen beurkundet die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur der Nationen gelegt hat.
Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich, obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher es gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat be- gleitet das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch in seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Um- gestaltungen durch, ohne deszhalb völlig ein anderer zu werden. Wie sehr verschieden war die äuszere Erscheinung des römischen States in den verschiede- nen Perioden seiner Geschichte, und dennoch wie klar stellt sich fortwährend der national-römische Charakter derselben dar. Die königliche, die republikanische, die kaiserliche Statsform entsprechen den verschiedenen Lebensaltern des römischen Volks, in allen aber wird das specifisch-römische Gepräge sichtbar. Die englische Monarchie unter den Tudors unterscheidet sich von der englischen Monarchie unter dem Hause Hannover, wie sich die Entwicklungsstufen des eng- lischen Volkes im XVI. und XVIII. Jahrhundert unterscheiden.
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Besonnenheit wieder findet. In beiden Fällen ist aber das
Gebrechen in dem statlichen Organismus so grosz, dasz das-
selbe auch den Untergang des Volkes zur Folge haben kann und
jedenfalls seine volle Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.
Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu
werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensan-
sicht, und eine besondere statliche Mission. Das Volk
erfüllt diese Bestimmung, indem es dem State das Gepräge
seines Wesens verleiht. Das ist das natürliche Recht des
Volkes auf eine volksthümliche Verfassung. Die Ver-
schiedenheit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der
Nationen, und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen
beurkundet die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur
der Nationen gelegt hat.
Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht
etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt
verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich,
obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse
und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher
es gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat be-
gleitet das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch
in seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Um-
gestaltungen durch, ohne deszhalb völlig ein
anderer zu werden. Wie sehr verschieden war die
äuszere Erscheinung des römischen States in den verschiede-
nen Perioden seiner Geschichte, und dennoch wie klar stellt
sich fortwährend der national-römische Charakter derselben
dar. Die königliche, die republikanische, die kaiserliche
Statsform entsprechen den verschiedenen Lebensaltern des
römischen Volks, in allen aber wird das specifisch-römische
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unterscheidet sich von der englischen Monarchie unter dem
Hause Hannover, wie sich die Entwicklungsstufen des eng-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/134>, abgerufen am 24.11.2024.
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