Zweites Buch. Die Grundbedingungen oes Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
tiefer stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung günstig. Auch die Menge der Handwerker, welche sich von der Hörigkeit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Ge- nossenschaft, und es wurde der Grundsatz ein- und durch- geführt, dasz der Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt unangesprochen und unverfolgt von seinem Herrn gewohnt habe, zum Freien geworden sei. Hunderte von Stadt- rechten 3 in ganz Europa bezeugen den wichtigen Satz: "Die Luft der Stadt macht frei."
Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen. Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr- schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung, die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu Anfang des XIV. Jahrhunderts meistens unter, und die Ge- walt fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhun- dert die neue groszentheils aus den niedern Elementen der Stadtbewohner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren demokratischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen Adel den Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben häufig unterworfen oder verdrängt hatte.
Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal- verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank- reich, die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge- blieben waren und von Vögten (prevots, Prevotalstädte) oft sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten wurden indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder sehr gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie als eines freien Standes aus, dessen man durch Nieder-
3 Für Deutschland sind in den Werken von Gaupp und Geng- ler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, zahlreiche Belege zu finden.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen oes Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
tiefer stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung günstig. Auch die Menge der Handwerker, welche sich von der Hörigkeit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Ge- nossenschaft, und es wurde der Grundsatz ein- und durch- geführt, dasz der Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt unangesprochen und unverfolgt von seinem Herrn gewohnt habe, zum Freien geworden sei. Hunderte von Stadt- rechten 3 in ganz Europa bezeugen den wichtigen Satz: „Die Luft der Stadt macht frei.“
Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen. Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr- schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung, die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu Anfang des XIV. Jahrhunderts meistens unter, und die Ge- walt fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhun- dert die neue groszentheils aus den niedern Elementen der Stadtbewohner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren demokratischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen Adel den Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben häufig unterworfen oder verdrängt hatte.
Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal- verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank- reich, die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge- blieben waren und von Vögten (prévôts, Prevotalstädte) oft sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten wurden indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder sehr gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie als eines freien Standes aus, dessen man durch Nieder-
3 Für Deutschland sind in den Werken von Gaupp und Geng- ler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, zahlreiche Belege zu finden.
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen oes Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
tiefer stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung
günstig. Auch die Menge der Handwerker, welche sich von
der Hörigkeit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Ge-
nossenschaft, und es wurde der Grundsatz ein- und durch-
geführt, dasz der Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt
unangesprochen und unverfolgt von seinem Herrn gewohnt
habe, zum Freien geworden sei. Hunderte von Stadt-
rechten 3 in ganz Europa bezeugen den wichtigen Satz: „Die
Luft der Stadt macht frei.“
Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie
in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen.
Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr-
schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung,
die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die
Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise
ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu
Anfang des XIV. Jahrhunderts meistens unter, und die Ge-
walt fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhun-
dert die neue groszentheils aus den niedern Elementen der
Stadtbewohner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren
demokratischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen
Adel den Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben
häufig unterworfen oder verdrängt hatte.
Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal-
verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank-
reich, die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge-
blieben waren und von Vögten (prévôts,
Prevotalstädte) oft
sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten
wurden indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder
sehr gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie
als eines freien Standes aus, dessen man durch Nieder-
3 Für Deutschland sind in den Werken von Gaupp
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/200>, abgerufen am 21.11.2024.
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