Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip.
Siebenzehntes Capitel.
6. Die modernen Classen.
I. Das Princip.

Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung
begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm,
weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,
hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf-
gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne
Verfassung bringt die höheren geistlichen Würdeträger, die
Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der
höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In-
stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer-
rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere
Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be-
trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber
auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern
ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben
in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung, als
die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und
die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest-
haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und
den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In-
dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das
blosze Bauernwesen durchbrochen.

Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen
Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen,
völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden
misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen
sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und
sie wollen keine -- auch nicht eine revidirte und reformirte --
Wiederherstellung desselben.


Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip.
Siebenzehntes Capitel.
6. Die modernen Classen.
I. Das Princip.

Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung
begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm,
weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,
hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf-
gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne
Verfassung bringt die höheren geistlichen Würdeträger, die
Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der
höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In-
stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer-
rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere
Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be-
trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber
auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern
ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben
in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung, als
die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und
die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest-
haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und
den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In-
dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das
blosze Bauernwesen durchbrochen.

Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen
Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen,
völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden
misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen
sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und
sie wollen keine — auch nicht eine revidirte und reformirte —
Wiederherstellung desselben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0217" n="199"/>
        <fw place="top" type="header">Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head>Siebenzehntes Capitel.<lb/>
6. <hi rendition="#g">Die modernen Classen</hi>.<lb/><hi rendition="#b">I. Das Princip.</hi></head><lb/>
          <p>Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung<lb/>
begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm,<lb/>
weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,<lb/>
hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf-<lb/>
gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne<lb/>
Verfassung bringt die höheren geistlichen Würdeträger, die<lb/>
Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der<lb/>
höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In-<lb/>
stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer-<lb/>
rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere<lb/>
Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be-<lb/>
trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber<lb/>
auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern<lb/>
ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben<lb/>
in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung, als<lb/>
die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und<lb/>
die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest-<lb/>
haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und<lb/>
den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In-<lb/>
dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das<lb/>
blosze Bauernwesen durchbrochen.</p><lb/>
          <p>Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen<lb/>
Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen,<lb/>
völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden<lb/>
misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen<lb/>
sich dem <hi rendition="#g">Ständestat des Mittelalters</hi> entwachsen und<lb/>
sie wollen keine &#x2014; auch nicht eine revidirte und reformirte &#x2014;<lb/>
Wiederherstellung desselben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0217] Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip. Siebenzehntes Capitel. 6. Die modernen Classen. I. Das Princip. Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm, weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm, hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf- gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne Verfassung bringt die höheren geistlichen Würdeträger, die Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In- stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer- rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be- trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung, als die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest- haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In- dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das blosze Bauernwesen durchbrochen. Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen, völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und sie wollen keine — auch nicht eine revidirte und reformirte — Wiederherstellung desselben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/217
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/217>, abgerufen am 24.11.2024.