Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller Stände ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar vorhandenen massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung auch eine politische Bedeutung haben. Will man dieselben verfassungsmäszig ordnen, so bleibt daher kein andrer Weg mehr übrig, als die Eintheilung nach Classen, statt nach Ständen. Was wir in der neuen Sprache noch Stände heiszen, das sind oft nicht wirkliche Stände, sondern Classen.
Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch, dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind, während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine nationale und statsrechtliche Institution zu politischen Zwecken, die Stände sind voraus eine particuläre und privat- rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor- erst an sich und seine besondern socialen Interessen, der Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirthschaft. Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise von den andern. Die Rücksichten auf den Stat üben darauf keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit einem ausgebildeten statlichen Bewustsein. So bei den Hellenen, wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck Classen entlehnen, so auch in unsern modernen Staten Europas.
Nichts hindert, bei der Classeneintheilung auch die vor- handenen Stände zu berücksichtigen, aber es ist weder nöthig
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller Stände ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar vorhandenen massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung auch eine politische Bedeutung haben. Will man dieselben verfassungsmäszig ordnen, so bleibt daher kein andrer Weg mehr übrig, als die Eintheilung nach Classen, statt nach Ständen. Was wir in der neuen Sprache noch Stände heiszen, das sind oft nicht wirkliche Stände, sondern Classen.
Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch, dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind, während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine nationale und statsrechtliche Institution zu politischen Zwecken, die Stände sind voraus eine particuläre und privat- rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor- erst an sich und seine besondern socialen Interessen, der Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirthschaft. Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise von den andern. Die Rücksichten auf den Stat üben darauf keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit einem ausgebildeten statlichen Bewustsein. So bei den Hellenen, wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck Classen entlehnen, so auch in unsern modernen Staten Europas.
Nichts hindert, bei der Classeneintheilung auch die vor- handenen Stände zu berücksichtigen, aber es ist weder nöthig
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller
Stände ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar
vorhandenen massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung
auch eine politische Bedeutung haben. Will man dieselben
verfassungsmäszig ordnen, so bleibt daher kein andrer Weg
mehr übrig, als die Eintheilung nach Classen, statt nach
Ständen. Was wir in der neuen Sprache noch Stände heiszen,
das sind oft nicht wirkliche Stände, sondern Classen.
Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch,
dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind,
während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States
ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die
Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine
nationale und statsrechtliche Institution zu politischen
Zwecken, die Stände sind voraus eine particuläre und privat-
rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und
nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus
lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor-
erst an sich und seine besondern socialen Interessen, der
Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirthschaft.
Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen
zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und
Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise
von den andern. Die Rücksichten auf den Stat üben darauf
keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles
Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind
naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher
finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit
einem ausgebildeten statlichen Bewustsein. So bei den Hellenen,
wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in
Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/218>, abgerufen am 24.11.2024.
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