Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu- denken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen, ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver- hältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider- sprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichthum seines Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben, welche uns in den Statslehren der Neuern so häufig begegnen. Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Pro- duct der bloszen kalten Logik, und das Recht des States ist nicht eine Sammlung speculativer Sätze.
Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter- suchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten; wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung des bestehenden Stats. In Zeiten der Revolution, wo die los- gebundenen Leidenschaften sich um so lieber solcher abstrac- ten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe die Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, er- halten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht, und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen, mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö- sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu sagen: "Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frank- reich zu Grunde gerichtet." Die ideologische Auffassung der
Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu- denken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen, ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver- hältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider- sprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichthum seines Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben, welche uns in den Statslehren der Neuern so häufig begegnen. Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Pro- duct der bloszen kalten Logik, und das Recht des States ist nicht eine Sammlung speculativer Sätze.
Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter- suchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten; wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung des bestehenden Stats. In Zeiten der Revolution, wo die los- gebundenen Leidenschaften sich um so lieber solcher abstrac- ten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe die Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, er- halten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht, und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen, mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö- sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu sagen: „Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frank- reich zu Grunde gerichtet.“ Die ideologische Auffassung der
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Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
Alles Recht und alle Politik nämlich hat eine ideale
Seite, einen sittlichen und geistigen Gehalt in sich, aber beide
ruhen zugleich auf einem realen Boden, und haben auch
eine leibliche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite
ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen
worden. Sie pflegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu-
denken, und daraus eine Reihe logischer Folgerungen zu ziehen,
ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver-
hältnisse. Selbst Platon ist in seiner Republik in diesen
Fehler verfallen und daher zu Sätzen gekommen, welche der
Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider-
sprechen. Indessen war Platon doch durch den Reichthum seines
Geistes und seinen Sinn für die Schönheit der Form vor der
armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben,
welche uns in den Statslehren der Neuern so häufig begegnen.
Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Pro-
duct der bloszen kalten Logik, und das Recht des States ist
nicht eine Sammlung speculativer Sätze.
Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter-
suchung betrieben wird, leicht zu unfruchtbaren Resultaten;
wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten
Geltendmachung fixer Ideen und zur Auflösung und Zerstörung
des bestehenden Stats. In Zeiten der Revolution, wo die los-
gebundenen Leidenschaften sich um so lieber solcher abstrac-
ten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe die
Schranken des Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, er-
halten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht,
und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen,
mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö-
sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der
Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung
vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu
sagen: „Die Metaphysiker, die Ideologen haben Frank-
reich zu Grunde gerichtet.“ Die ideologische Auffassung der
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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