Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf, sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht- licher Erlaubnisz zuläszig ist;
b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze. Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un- auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird, vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner- lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechts- wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran, soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf- lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.
Zwanzigstes Capitel. 2. Die Frauen.
Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe- rechtigte Statsglieder und Statsgenossen. Erst in unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re- volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König, dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf, sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht- licher Erlaubnisz zuläszig ist;
b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze. Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un- auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird, vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner- lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechts- wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran, soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf- lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.
Zwanzigstes Capitel. 2. Die Frauen.
Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe- rechtigte Statsglieder und Statsgenossen. Erst in unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re- volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König, dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0246"n="228"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.<lb/>
Volksnatur.</fw><lb/>
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der<lb/>
Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden<lb/>
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,<lb/>
sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht-<lb/>
licher Erlaubnisz zuläszig ist;</p><lb/><p>b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.<lb/>
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-<lb/>
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,<lb/>
vertreten, insofern sie <hirendition="#g">moralisch und geistig</hi> einwirkt und<lb/>
zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich<lb/>
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im<lb/>
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit<lb/>
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die <hirendition="#g">inner-<lb/>
lich doch gebrochen und zerstört</hi> sind, auch von Rechts-<lb/>
wegen <hirendition="#g">äuszerlich zu lösen</hi>. Nur thut der Stat wohl daran,<lb/>
soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die<lb/>
individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf-<lb/>
lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der<lb/>
Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>Zwanzigstes Capitel.<lb/><hirendition="#b">2. Die Frauen.</hi></head><lb/><p>Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die<lb/>
Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke<lb/>
gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur<lb/><hirendition="#g">mittelbar</hi> mit dem State verbunden, <hirendition="#g">nicht</hi> als <hirendition="#g">vollbe-<lb/>
rechtigte Statsglieder</hi> und <hirendition="#g">Statsgenossen</hi>. Erst in<lb/>
unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen<lb/>
einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re-<lb/>
volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König,<lb/>
dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[228/0246]
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der
Willkür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden
Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf,
sondern nur unter gerichtlicher Mitwirkung und mit gericht-
licher Erlaubnisz zuläszig ist;
b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze.
Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un-
auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird,
vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und
zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich
um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöthigt ist, auch im
Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit
der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner-
lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechts-
wegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran,
soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die
individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauf-
lösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der
Scheidung einer ernsten Controle zu unterwerfen.
Zwanzigstes Capitel.
2. Die Frauen.
Die bisherige Grundansicht aller Völker betrachtet die
Frauen zwar als zu derselben Nation und zu demselben Volke
gehörig, wie ihre Männer oder ihre Väter, aber doch nur
mittelbar mit dem State verbunden, nicht als vollbe-
rechtigte Statsglieder und Statsgenossen. Erst in
unserer modernen Weltperiode regen sich vorerst Anzeichen
einer andern Meinung. Schon zur Zeit der französischen Re-
volution von 1789 verlangte eine Frauenpetition an den König,
dasz auch dem weiblichen Geschlechte statsbürgerliche Rechte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/246>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.