Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Wohlfahrt der Gesellschaft und des States sei. Dieser ober- flächliche Gedanke hat das kindliche Ideal des Paradieses er- zeugt, jenes wonnigen Gartens mit mancherlei Fruchtbäumen, welche dem Menschen reichliche Nahrung spenden, ohne von ihm mühevolle Arbeit zu fordern. Noch heute erscheint dem kindischen wie dem trägen Menschen der arbeitslose Genusz als höchste Seligkeit. Aber das reifere Alter und der streb- same Mensch betrachtet mit Geringschätzung einen Zustand, welcher von der eigentlichen Lebensaufgabe, der Entwick- lung und Vervollkommnung der Menschennatur noch keine Ahnung hat.
Allerdings ist ein völlig unfruchtbarer Boden sehr ungünstig für das Gemeinleben; denn der Mensch ist da ge- nöthigt, die Nahrung, deren er an seinem Wohnort bedarf, und die er da nicht findet, sich aus der Ferne zu verschaffen, d. h. er musz durch den Handel ergänzen, woran es der Natur seines Wohnorts gebricht. Es können daher etwa Handels- städte da entstehen und gedeihen, wie denn Venedig sich un- mittelbar aus dem unfruchtbaren Meere erhebt. Aber ganze Nationen werden in unfruchtbaren Ländern nur mühsam und ärmlich sich durchbringen und die dünne Bevölkerung hat nur ein dürftiges Wachsthum. Menschen können hier schwer zu einem festen Sitze gelangen und müssen in Familien und Horden zerstreut, ein unstätes Wanderleben führen. Buckle hat darauf hingewiesen, dasz die mongolischen und tartari- schen Horden in ihren Steppenländern nur geringe Fort- schritte gemacht und erst in den Ackerländern China und Indien es zu einer Civilisation gebracht haben, und dasz ebenso die muhammedanischen Araber nicht in dem steinigen Arabien, sondern erst in den fruchtbaren Ländern Persiens und an der Küste des Mittelmeers zu einer höheren Staten- bildung gelangt sind.
Wenn in kaltem Klima die Statenbildung nicht gedeiht, so ist die Ursache nicht blosz in der Schwierigkeit, sich zu
Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Wohlfahrt der Gesellschaft und des States sei. Dieser ober- flächliche Gedanke hat das kindliche Ideal des Paradieses er- zeugt, jenes wonnigen Gartens mit mancherlei Fruchtbäumen, welche dem Menschen reichliche Nahrung spenden, ohne von ihm mühevolle Arbeit zu fordern. Noch heute erscheint dem kindischen wie dem trägen Menschen der arbeitslose Genusz als höchste Seligkeit. Aber das reifere Alter und der streb- same Mensch betrachtet mit Geringschätzung einen Zustand, welcher von der eigentlichen Lebensaufgabe, der Entwick- lung und Vervollkommnung der Menschennatur noch keine Ahnung hat.
Allerdings ist ein völlig unfruchtbarer Boden sehr ungünstig für das Gemeinleben; denn der Mensch ist da ge- nöthigt, die Nahrung, deren er an seinem Wohnort bedarf, und die er da nicht findet, sich aus der Ferne zu verschaffen, d. h. er musz durch den Handel ergänzen, woran es der Natur seines Wohnorts gebricht. Es können daher etwa Handels- städte da entstehen und gedeihen, wie denn Venedig sich un- mittelbar aus dem unfruchtbaren Meere erhebt. Aber ganze Nationen werden in unfruchtbaren Ländern nur mühsam und ärmlich sich durchbringen und die dünne Bevölkerung hat nur ein dürftiges Wachsthum. Menschen können hier schwer zu einem festen Sitze gelangen und müssen in Familien und Horden zerstreut, ein unstätes Wanderleben führen. Buckle hat darauf hingewiesen, dasz die mongolischen und tartari- schen Horden in ihren Steppenländern nur geringe Fort- schritte gemacht und erst in den Ackerländern China und Indien es zu einer Civilisation gebracht haben, und dasz ebenso die muhammedanischen Araber nicht in dem steinigen Arabien, sondern erst in den fruchtbaren Ländern Persiens und an der Küste des Mittelmeers zu einer höheren Staten- bildung gelangt sind.
Wenn in kaltem Klima die Statenbildung nicht gedeiht, so ist die Ursache nicht blosz in der Schwierigkeit, sich zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0282"n="264"/><fwplace="top"type="header">Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.</fw><lb/>
Wohlfahrt der Gesellschaft und des States sei. Dieser ober-<lb/>
flächliche Gedanke hat das kindliche Ideal des Paradieses er-<lb/>
zeugt, jenes wonnigen Gartens mit mancherlei Fruchtbäumen,<lb/>
welche dem Menschen reichliche Nahrung spenden, ohne von<lb/>
ihm mühevolle Arbeit zu fordern. Noch heute erscheint dem<lb/>
kindischen wie dem trägen Menschen der arbeitslose Genusz<lb/>
als höchste Seligkeit. Aber das reifere Alter und der streb-<lb/>
same Mensch betrachtet mit Geringschätzung einen Zustand,<lb/>
welcher von der eigentlichen Lebensaufgabe, der Entwick-<lb/>
lung und Vervollkommnung der Menschennatur noch keine<lb/>
Ahnung hat.</p><lb/><p>Allerdings ist ein völlig <hirendition="#g">unfruchtbarer</hi> Boden sehr<lb/>
ungünstig für das Gemeinleben; denn der Mensch ist da ge-<lb/>
nöthigt, die Nahrung, deren er an seinem Wohnort bedarf,<lb/>
und die er da nicht findet, sich aus der Ferne zu verschaffen,<lb/>
d. h. er musz durch den Handel ergänzen, woran es der Natur<lb/>
seines Wohnorts gebricht. Es können daher etwa Handels-<lb/>
städte da entstehen und gedeihen, wie denn Venedig sich un-<lb/>
mittelbar aus dem unfruchtbaren Meere erhebt. Aber ganze<lb/>
Nationen werden in unfruchtbaren Ländern nur mühsam und<lb/>
ärmlich sich durchbringen und die dünne Bevölkerung hat<lb/>
nur ein dürftiges Wachsthum. Menschen können hier schwer<lb/>
zu einem festen Sitze gelangen und müssen in Familien und<lb/>
Horden zerstreut, ein unstätes Wanderleben führen. Buckle<lb/>
hat darauf hingewiesen, dasz die mongolischen und tartari-<lb/>
schen Horden in ihren Steppenländern nur geringe Fort-<lb/>
schritte gemacht und erst in den Ackerländern China und<lb/>
Indien es zu einer Civilisation gebracht haben, und dasz<lb/>
ebenso die muhammedanischen Araber nicht in dem steinigen<lb/>
Arabien, sondern erst in den fruchtbaren Ländern Persiens<lb/>
und an der Küste des Mittelmeers zu einer höheren Staten-<lb/>
bildung gelangt sind.</p><lb/><p>Wenn in kaltem Klima die Statenbildung nicht gedeiht,<lb/>
so ist die Ursache nicht blosz in der Schwierigkeit, sich zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[264/0282]
Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Wohlfahrt der Gesellschaft und des States sei. Dieser ober-
flächliche Gedanke hat das kindliche Ideal des Paradieses er-
zeugt, jenes wonnigen Gartens mit mancherlei Fruchtbäumen,
welche dem Menschen reichliche Nahrung spenden, ohne von
ihm mühevolle Arbeit zu fordern. Noch heute erscheint dem
kindischen wie dem trägen Menschen der arbeitslose Genusz
als höchste Seligkeit. Aber das reifere Alter und der streb-
same Mensch betrachtet mit Geringschätzung einen Zustand,
welcher von der eigentlichen Lebensaufgabe, der Entwick-
lung und Vervollkommnung der Menschennatur noch keine
Ahnung hat.
Allerdings ist ein völlig unfruchtbarer Boden sehr
ungünstig für das Gemeinleben; denn der Mensch ist da ge-
nöthigt, die Nahrung, deren er an seinem Wohnort bedarf,
und die er da nicht findet, sich aus der Ferne zu verschaffen,
d. h. er musz durch den Handel ergänzen, woran es der Natur
seines Wohnorts gebricht. Es können daher etwa Handels-
städte da entstehen und gedeihen, wie denn Venedig sich un-
mittelbar aus dem unfruchtbaren Meere erhebt. Aber ganze
Nationen werden in unfruchtbaren Ländern nur mühsam und
ärmlich sich durchbringen und die dünne Bevölkerung hat
nur ein dürftiges Wachsthum. Menschen können hier schwer
zu einem festen Sitze gelangen und müssen in Familien und
Horden zerstreut, ein unstätes Wanderleben führen. Buckle
hat darauf hingewiesen, dasz die mongolischen und tartari-
schen Horden in ihren Steppenländern nur geringe Fort-
schritte gemacht und erst in den Ackerländern China und
Indien es zu einer Civilisation gebracht haben, und dasz
ebenso die muhammedanischen Araber nicht in dem steinigen
Arabien, sondern erst in den fruchtbaren Ländern Persiens
und an der Küste des Mittelmeers zu einer höheren Staten-
bildung gelangt sind.
Wenn in kaltem Klima die Statenbildung nicht gedeiht,
so ist die Ursache nicht blosz in der Schwierigkeit, sich zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/282>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.