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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
ordnet wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Für-
stenthümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der ita-
lienischen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Pie-
mont zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1860 und
1861 und vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Han-
nover und der Fürstenthümer Kurhessen, Nassau, Schleswig
und Holstein und der freien Stadt Frankfurt in preuszische
Provinzen sind neuere Beispiele solcher vollen Union.

Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und
Wandlung ausschlieszlich aus dem dynastischen Standpuncte
und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu-
sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken
durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie
die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben-
den, so auch von Todes wegen (Testament, Erbvertrag) an-
erkannt; wie wenn Volk und Land eine Verlassenschaft wären,
über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver-
fügen hätte. Das neuere Statsrecht musz diese dem modernen
Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest
halten, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche
Verfassung des Volks betreffen und daher nicht ohne Zu-
stimmung der Volksvertretung geordnet
werden
dürfen.

C. Den Gegensatz der Verbindung bildet die Theilung
und Zertrennung eines gröszeren States in zwei oder meh-
rere neuere Staten.

7. Nationale Scheidung. Diese Erscheinung wird
sich besonders da ergeben, wo verschiedene, zumal auch dem
Gebiete nach getrennte Völker zu einem State verbunden
waren, ohne innerlich eins zu werden. Wenn die Macht der
Concentration, welche sie bisher zusammenhielt, nachläszt,
so treiben die natürlichen Gegensätze auseinander, und es
geht der grosze Scheidungsprocesz vor sich, welcher das bis-
herige Ganze in eine Anzahl neuer selbständiger Staten auf-

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
ordnet wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Für-
stenthümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der ita-
lienischen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Pie-
mont zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1860 und
1861 und vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Han-
nover und der Fürstenthümer Kurhessen, Nassau, Schleswig
und Holstein und der freien Stadt Frankfurt in preuszische
Provinzen sind neuere Beispiele solcher vollen Union.

Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und
Wandlung ausschlieszlich aus dem dynastischen Standpuncte
und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu-
sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken
durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie
die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben-
den, so auch von Todes wegen (Testament, Erbvertrag) an-
erkannt; wie wenn Volk und Land eine Verlassenschaft wären,
über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver-
fügen hätte. Das neuere Statsrecht musz diese dem modernen
Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest
halten, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche
Verfassung des Volks betreffen und daher nicht ohne Zu-
stimmung der Volksvertretung geordnet
werden
dürfen.

C. Den Gegensatz der Verbindung bildet die Theilung
und Zertrennung eines gröszeren States in zwei oder meh-
rere neuere Staten.

7. Nationale Scheidung. Diese Erscheinung wird
sich besonders da ergeben, wo verschiedene, zumal auch dem
Gebiete nach getrennte Völker zu einem State verbunden
waren, ohne innerlich eins zu werden. Wenn die Macht der
Concentration, welche sie bisher zusammenhielt, nachläszt,
so treiben die natürlichen Gegensätze auseinander, und es
geht der grosze Scheidungsprocesz vor sich, welcher das bis-
herige Ganze in eine Anzahl neuer selbständiger Staten auf-

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[314/0332] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. ordnet wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Für- stenthümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der ita- lienischen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Pie- mont zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1860 und 1861 und vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Han- nover und der Fürstenthümer Kurhessen, Nassau, Schleswig und Holstein und der freien Stadt Frankfurt in preuszische Provinzen sind neuere Beispiele solcher vollen Union. Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und Wandlung ausschlieszlich aus dem dynastischen Standpuncte und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu- sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben- den, so auch von Todes wegen (Testament, Erbvertrag) an- erkannt; wie wenn Volk und Land eine Verlassenschaft wären, über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver- fügen hätte. Das neuere Statsrecht musz diese dem modernen Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest halten, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche Verfassung des Volks betreffen und daher nicht ohne Zu- stimmung der Volksvertretung geordnet werden dürfen. C. Den Gegensatz der Verbindung bildet die Theilung und Zertrennung eines gröszeren States in zwei oder meh- rere neuere Staten. 7. Nationale Scheidung. Diese Erscheinung wird sich besonders da ergeben, wo verschiedene, zumal auch dem Gebiete nach getrennte Völker zu einem State verbunden waren, ohne innerlich eins zu werden. Wenn die Macht der Concentration, welche sie bisher zusammenhielt, nachläszt, so treiben die natürlichen Gegensätze auseinander, und es geht der grosze Scheidungsprocesz vor sich, welcher das bis- herige Ganze in eine Anzahl neuer selbständiger Staten auf-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/332>, abgerufen am 22.11.2024.