Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
Träume bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doc- trinen da zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse und Kräfte widerstreiten.
Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl als nach auszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd geworden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die Macht die Verbindung mit dem Recht, d. h. die Anerkennung, Reinigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das Recht ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie ist der Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte ver- einigt aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig geworden.
Neuntes Capitel. IV. Die Vertragstheorie.
Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz "der Stat ein freies Werk des Vertrages, der Uebereinkunft seiner Bürger" sei, eine grosze Verbreitung und Popularität genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi- duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengrün- der denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen, indem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz. Diese Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen Revolution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe vornehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wur- den mannichfaltige aber verunglückte Versuche unternommen, über dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsge- bäude aufzurichten. Aber wenn sie auch vorzugsweise als die Lieblingstheorie der Revolution Geltung gefunden hat, so hat sie doch öfter schon auch dazu dienen müssen, die Recht-
Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
Träume bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doc- trinen da zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse und Kräfte widerstreiten.
Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl als nach auszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd geworden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die Macht die Verbindung mit dem Recht, d. h. die Anerkennung, Reinigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das Recht ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie ist der Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte ver- einigt aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig geworden.
Neuntes Capitel. IV. Die Vertragstheorie.
Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz „der Stat ein freies Werk des Vertrages, der Uebereinkunft seiner Bürger“ sei, eine grosze Verbreitung und Popularität genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi- duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengrün- der denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen, indem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz. Diese Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen Revolution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe vornehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wur- den mannichfaltige aber verunglückte Versuche unternommen, über dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsge- bäude aufzurichten. Aber wenn sie auch vorzugsweise als die Lieblingstheorie der Revolution Geltung gefunden hat, so hat sie doch öfter schon auch dazu dienen müssen, die Recht-
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Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
Träume bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doc-
trinen da zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse
und Kräfte widerstreiten.
Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich
behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl
als nach auszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd
geworden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die
Macht die Verbindung mit dem Recht, d. h. die Anerkennung,
Reinigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das
Recht ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie
ist der Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte ver-
einigt aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig
geworden.
Neuntes Capitel.
IV. Die Vertragstheorie.
Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz „der
Stat ein freies Werk des Vertrages, der Uebereinkunft
seiner Bürger“ sei, eine grosze Verbreitung und Popularität
genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi-
duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengrün-
der denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen,
indem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz.
Diese Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen
Revolution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe
vornehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wur-
den mannichfaltige aber verunglückte Versuche unternommen,
über dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsge-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/353>, abgerufen am 22.11.2024.
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