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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die
Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-
stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der
Zerstörung und des Todes.

Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem
Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der
Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt-
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will,
Empörung wider das Recht. 2

Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-
entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in-
sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt
führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck
auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht-
verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die

2 Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne
hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.):
"Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der
Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht" (s'il ne transforme
sa force en droit et l'obeissance en devoir).

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die
Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-
stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der
Zerstörung und des Todes.

Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem
Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der
Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt-
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will,
Empörung wider das Recht. 2

Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-
entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in-
sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt
führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck
auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht-
verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die

2 Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne
hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.):
„Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der
Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht“ (s'il ne transforme
sa force en droit et l'obéissance en devoir).
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[334/0352] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider- stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An- erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der Zerstörung und des Todes. Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt- lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy- sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will, Empörung wider das Recht. 2 Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un- entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in- sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber, welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht- verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die 2 Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.): „Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup- ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht“ (s'il ne transforme sa force en droit et l'obéissance en devoir).

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/352>, abgerufen am 22.11.2024.