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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Neuntes Capitel.
B. Altrömisches Volkskönigthum.

In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der
Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt; in
andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend,
dasz wir in ihm wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und
zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dür-
fen. Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir
den wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf
das Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der
Ernennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volks-
glaube die römischen Könige von göttlicher Herkunft
stammen läszt, wie die griechischen und germanischen.

Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver-
dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird
nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach
ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen
andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen,
welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un-
sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare
Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König-
thums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch
in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das
Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und
der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die
Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den
Hintergrund. 1

Der römische König wird von dem Vorgänger oder

1 Ganz analog ist selbst das römische Erbrecht in der Regel nicht
auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern
in erster Linie auf den individuellen Willen des Erblassers, der seinen
Nachfolger frei ernennt.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
Neuntes Capitel.
B. Altrömisches Volkskönigthum.

In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der
Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt; in
andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend,
dasz wir in ihm wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und
zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dür-
fen. Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir
den wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf
das Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der
Ernennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volks-
glaube die römischen Könige von göttlicher Herkunft
stammen läszt, wie die griechischen und germanischen.

Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver-
dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird
nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach
ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen
andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen,
welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un-
sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare
Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König-
thums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch
in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das
Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und
der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die
Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den
Hintergrund. 1

Der römische König wird von dem Vorgänger oder

1 Ganz analog ist selbst das römische Erbrecht in der Regel nicht
auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern
in erster Linie auf den individuellen Willen des Erblassers, der seinen
Nachfolger frei ernennt.
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[410/0428] Sechstes Buch. Die Statsformen. Neuntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt; in andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend, dasz wir in ihm wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dür- fen. Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir den wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf das Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der Ernennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volks- glaube die römischen Könige von göttlicher Herkunft stammen läszt, wie die griechischen und germanischen. Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver- dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen, welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un- sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König- thums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den Hintergrund. 1 Der römische König wird von dem Vorgänger oder 1 Ganz analog ist selbst das römische Erbrecht in der Regel nicht auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern in erster Linie auf den individuellen Willen des Erblassers, der seinen Nachfolger frei ernennt.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/428>, abgerufen am 22.11.2024.