Masze zugestanden als in England, oder vielmehr, da die Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum aus- geht, 7 minder beschränkt worden als dort; aber die Sicher- heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist als der englische, sondern weil die Revolution die französische Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.
Die Pairie, welche nächst dem Könige einen Antheil an der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof über schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine "wahrhaft nationale Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Ver- gangenheit mit allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und die neue Zeit verbinden." Aber in der Wirklichkeit wurden die neuen Gröszen der Napoleonischen Zeit zu sehr zurück- gesetzt und die alte, theilweise verkommene Aristokratie zu freigebig bedacht, als dasz diese erbliche Pairschaft als eine "wahrhaft nationale Institution" hätte Anerkennung finden und Bestand haben können. Dem englischen Oberhaus stand sie weit nach. Die Deputirtenkammer endlich sollte "jene alten Versammlungen des März- und Maifeldes sowie die Kammer des dritten Standes" ersetzen. Sie war aber auf rein plutokratischen Fundamenten errichtet, und ward vorzüglich zu Gunsten der Beamten ausgebeutet. Die Masse der städti- schen Bürgerschaft, welche sich als berechtigt fühlte, wohl- habend und civilisirt war und in der Revolutionsperiode eine bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte weder Wahlrechte noch Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Bevölkerung, welche durch die Revolution freies Eigenthum gewonnen und ebenfalls po- litische Rechte erworben hatte, war nicht minder ausgeschlossen. Auf die niedern Volksschichten war keine Rücksicht genom-
7 Einleitung: "Bien que l'autorite toute entiere residat en France dans la personne du Roi."
Sechstes Buch. Die Statsformen.
Masze zugestanden als in England, oder vielmehr, da die Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum aus- geht, 7 minder beschränkt worden als dort; aber die Sicher- heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist als der englische, sondern weil die Revolution die französische Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.
Die Pairie, welche nächst dem Könige einen Antheil an der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof über schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine „wahrhaft nationale Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Ver- gangenheit mit allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und die neue Zeit verbinden.“ Aber in der Wirklichkeit wurden die neuen Gröszen der Napoleonischen Zeit zu sehr zurück- gesetzt und die alte, theilweise verkommene Aristokratie zu freigebig bedacht, als dasz diese erbliche Pairschaft als eine „wahrhaft nationale Institution“ hätte Anerkennung finden und Bestand haben können. Dem englischen Oberhaus stand sie weit nach. Die Deputirtenkammer endlich sollte „jene alten Versammlungen des März- und Maifeldes sowie die Kammer des dritten Standes“ ersetzen. Sie war aber auf rein plutokratischen Fundamenten errichtet, und ward vorzüglich zu Gunsten der Beamten ausgebeutet. Die Masse der städti- schen Bürgerschaft, welche sich als berechtigt fühlte, wohl- habend und civilisirt war und in der Revolutionsperiode eine bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte weder Wahlrechte noch Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Bevölkerung, welche durch die Revolution freies Eigenthum gewonnen und ebenfalls po- litische Rechte erworben hatte, war nicht minder ausgeschlossen. Auf die niedern Volksschichten war keine Rücksicht genom-
7 Einleitung: „Bien que l'autorité toute entière résidât en France dans la personne du Roi.“
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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Masze zugestanden als in England, oder vielmehr, da die
Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum aus-
geht, 7 minder beschränkt worden als dort; aber die Sicher-
heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als
in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von
jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist
als der englische, sondern weil die Revolution die französische
Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen
Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.
Die Pairie, welche nächst dem Könige einen Antheil
an der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof
über schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine „wahrhaft
nationale Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Ver-
gangenheit mit allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und
die neue Zeit verbinden.“ Aber in der Wirklichkeit wurden
die neuen Gröszen der Napoleonischen Zeit zu sehr zurück-
gesetzt und die alte, theilweise verkommene Aristokratie zu
freigebig bedacht, als dasz diese erbliche Pairschaft als eine
„wahrhaft nationale Institution“ hätte Anerkennung finden
und Bestand haben können. Dem englischen Oberhaus stand
sie weit nach. Die Deputirtenkammer endlich sollte „jene
alten Versammlungen des März- und Maifeldes sowie die
Kammer des dritten Standes“ ersetzen. Sie war aber auf rein
plutokratischen Fundamenten errichtet, und ward vorzüglich
zu Gunsten der Beamten ausgebeutet. Die Masse der städti-
schen Bürgerschaft, welche sich als berechtigt fühlte, wohl-
habend und civilisirt war und in der Revolutionsperiode eine
bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte weder Wahlrechte noch
Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Bevölkerung, welche durch
die Revolution freies Eigenthum gewonnen und ebenfalls po-
litische Rechte erworben hatte, war nicht minder ausgeschlossen.
Auf die niedern Volksschichten war keine Rücksicht genom-
7 Einleitung: „Bien que l'autorité toute entière résidât en France
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/474>, abgerufen am 24.11.2024.
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