Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
men. Der Demos war somit gar nicht vertreten, und doch war er in Frankreich zu einer groszen politischen Macht geworden. Er konnte unmöglich eine Verfassung lieb gewinnen und sie stützen, welche ihn überall ausschlosz.
Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt, die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte, zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte sich der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere abzuhalten. 8
Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes, welches durch Karl X. absolutistisch und durch seine eigene Presse revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch aus. "Die Charte soll eine Wahrheit sein" war der Wahl- spruch Louis Philipps und der Julirevolution von 1830. Indessen wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine persönliche auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der Deputirtenkammer wurde um etwas erweitert, aber noch be- hielt sie ihren plutokratischen Charakter bei.
Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul- kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Ver- blüffung der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit um- gestürzt. Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft in Frankreich auszuüben.
8Tocqueville bezeichnet die beiden Tendenzen scharf in seinem Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: "La revolution s'est prononcee en meme temps contre la royaute et contre les institutions provinciales -- elle a ete tout a la fois republicaine et centralisante: un fait, dont les amis du pouvoir absolu se sont empares avec grand soin."
Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
men. Der Demos war somit gar nicht vertreten, und doch war er in Frankreich zu einer groszen politischen Macht geworden. Er konnte unmöglich eine Verfassung lieb gewinnen und sie stützen, welche ihn überall ausschlosz.
Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt, die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte, zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte sich der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere abzuhalten. 8
Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes, welches durch Karl X. absolutistisch und durch seine eigene Presse revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch aus. „Die Charte soll eine Wahrheit sein“ war der Wahl- spruch Louis Philipps und der Julirevolution von 1830. Indessen wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine persönliche auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der Deputirtenkammer wurde um etwas erweitert, aber noch be- hielt sie ihren plutokratischen Charakter bei.
Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul- kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Ver- blüffung der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit um- gestürzt. Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft in Frankreich auszuüben.
8Tocqueville bezeichnet die beiden Tendenzen scharf in seinem Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: „La révolution s'est prononcée en même temps contre la royauté et contre les institutions provinciales — elle a été tout à la fois républicaine et centralisante: un fait, dont les amis du pouvoir absolu se sont emparés avec grand soin.“
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Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
men. Der Demos war somit gar nicht vertreten, und doch
war er in Frankreich zu einer groszen politischen Macht
geworden. Er konnte unmöglich eine Verfassung lieb gewinnen
und sie stützen, welche ihn überall ausschlosz.
Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt,
die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation
und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte,
zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese
im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte
sich der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere
abzuhalten. 8
Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes,
welches durch Karl X. absolutistisch und durch seine eigene
Presse revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch
aus. „Die Charte soll eine Wahrheit sein“ war der Wahl-
spruch Louis Philipps und der Julirevolution von 1830.
Indessen wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine
persönliche auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der
Deputirtenkammer wurde um etwas erweitert, aber noch be-
hielt sie ihren plutokratischen Charakter bei.
Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul-
kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher
Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl
sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig
ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr
lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Ver-
blüffung der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit um-
gestürzt. Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft
in Frankreich auszuüben.
8 Tocqueville bezeichnet die beiden Tendenzen scharf in seinem
Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: „La révolution s'est
prononcée en même temps contre la royauté et contre les institutions
provinciales — elle a été tout à la fois
républicaine et centralisante: un
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/475>, abgerufen am 24.11.2024.
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