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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
fang einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es
war sogar ein Vorzug dieser Verfassung, dasz sie an die be-
stehenden Verhältnisse anknüpfte und nicht blosz die bisher
übliche Form der constitutionellen Monarchie nachahmte.
Freilich waren die Rechte des Landtags nur kümmerlich und
ungenügend bedacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung
war gegeben, und die Mängel der Verfassung hätten sich auf
organische Weise im Zusammenhang mit der politischen Er-
ziehung auch des Volkes nach und nach heben lassen. Leider
trat die Regierung auch den gerechten Wünschen des Land-
tags in einer Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch
der gemäszigten Parteien entzog. Und als das politische Erd-
beben von 1848 Europa erschütterte, stürzte der neue Bau
haltlos zusammen. Preuszen erhielt darauf am 5. October 1848
eine Verfassung, welche zu groszem Theile das Werk der de-
mokratischen, von den Wogen der Revolution getragenen Partei
war. Nur mit Hülfe eines von dem Könige octroyirten Wahl-
gesetzes vom 30. Mai 1849 gelang es, die revidirte Ver-
fassung
vom 31. Januar 1850 im Einverständnisz der drei
Factoren durchzusetzen. Seither sind noch einige wesentliche
Veränderungen hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung
der Autorität. Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung
war nun für das constitutionelle Leben von Preuszen eine
neue statsrechtliche 25 Grundlage gewonnen.

Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten
freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort
der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das ari-
stokratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern
Vertretern des Absolutismus und der ritterschaftlichen Ro-
mantik allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sich
nur widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten König-
thum fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu fügen

25 Die Urkunde bei Zachariä, die
deutschen Verfassungsgesetze
der Gegenwart, S. 74 ff.

Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.
fang einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es
war sogar ein Vorzug dieser Verfassung, dasz sie an die be-
stehenden Verhältnisse anknüpfte und nicht blosz die bisher
übliche Form der constitutionellen Monarchie nachahmte.
Freilich waren die Rechte des Landtags nur kümmerlich und
ungenügend bedacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung
war gegeben, und die Mängel der Verfassung hätten sich auf
organische Weise im Zusammenhang mit der politischen Er-
ziehung auch des Volkes nach und nach heben lassen. Leider
trat die Regierung auch den gerechten Wünschen des Land-
tags in einer Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch
der gemäszigten Parteien entzog. Und als das politische Erd-
beben von 1848 Europa erschütterte, stürzte der neue Bau
haltlos zusammen. Preuszen erhielt darauf am 5. October 1848
eine Verfassung, welche zu groszem Theile das Werk der de-
mokratischen, von den Wogen der Revolution getragenen Partei
war. Nur mit Hülfe eines von dem Könige octroyirten Wahl-
gesetzes vom 30. Mai 1849 gelang es, die revidirte Ver-
fassung
vom 31. Januar 1850 im Einverständnisz der drei
Factoren durchzusetzen. Seither sind noch einige wesentliche
Veränderungen hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung
der Autorität. Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung
war nun für das constitutionelle Leben von Preuszen eine
neue statsrechtliche 25 Grundlage gewonnen.

Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten
freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort
der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das ari-
stokratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern
Vertretern des Absolutismus und der ritterschaftlichen Ro-
mantik allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sich
nur widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten König-
thum fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu fügen

25 Die Urkunde bei Zachariä, die
deutschen Verfassungsgesetze
der Gegenwart, S. 74 ff.
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[477/0495] Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc. fang einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es war sogar ein Vorzug dieser Verfassung, dasz sie an die be- stehenden Verhältnisse anknüpfte und nicht blosz die bisher übliche Form der constitutionellen Monarchie nachahmte. Freilich waren die Rechte des Landtags nur kümmerlich und ungenügend bedacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung war gegeben, und die Mängel der Verfassung hätten sich auf organische Weise im Zusammenhang mit der politischen Er- ziehung auch des Volkes nach und nach heben lassen. Leider trat die Regierung auch den gerechten Wünschen des Land- tags in einer Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch der gemäszigten Parteien entzog. Und als das politische Erd- beben von 1848 Europa erschütterte, stürzte der neue Bau haltlos zusammen. Preuszen erhielt darauf am 5. October 1848 eine Verfassung, welche zu groszem Theile das Werk der de- mokratischen, von den Wogen der Revolution getragenen Partei war. Nur mit Hülfe eines von dem Könige octroyirten Wahl- gesetzes vom 30. Mai 1849 gelang es, die revidirte Ver- fassung vom 31. Januar 1850 im Einverständnisz der drei Factoren durchzusetzen. Seither sind noch einige wesentliche Veränderungen hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung der Autorität. Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung war nun für das constitutionelle Leben von Preuszen eine neue statsrechtliche 25 Grundlage gewonnen. Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das ari- stokratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern Vertretern des Absolutismus und der ritterschaftlichen Ro- mantik allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sich nur widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten König- thum fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu fügen 25 Die Urkunde bei Zachariä, die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S. 74 ff.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/495>, abgerufen am 16.06.2024.