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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
im State hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie
seine menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm,
der das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von
politischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht,
Treue gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig
wäre, ob er derselben persönlich würdig, ob er auch nur
fähig sei, die Hingebung und Verehrung des Volkes zu ver-
stehen und zu erwiedern? Die Consequenz eines falschen
Princips müszte zu der Behauptung führen: je der blödsinnigste
und schwächste Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und
eigenen Willen hat, wäre der constitutionellste Monarch. 5 Und
eine solche Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein,
welche die Völker haben nach einer wohlorganisirten und
geistig gehobenen Statsordnung?

Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen,
um diese unsinnige Vorstellung zu vertheidigen. Allein auch
in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts weniger
als gleichgültig. 6

5. Auch den berühmten Satz von Thiers: "Le roi regne
mais il ne gouverne pas
" (der König herrscht aber er regiert
nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des
constitutionell-monarchischen Princips gelten lassen. Ist es
doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben
dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch-

5 Auch Hegel, Rechtsphil. §. 280 geht zu weit, wenn er meint:
"der Monarch habe nur Ja zu sagen, und den Punkt auf das I zu
setzen."
Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein zu sagen, und nicht blosz den
"formellen Entscheid" zu geben, sondern auch das
reell entscheidende
Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anzuregen und
einzugreifen, wo es noth thut. J. H. Fichte, Beitrag zur Statslehre:
"Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste."
6 Wer darüber zweifelt, der lese Broughams
Statsmänner, und er
wird sich überzeugen, dasz auch in England eine menschlich-persönliche
Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und seiner
Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf
den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 13, Anm. 3.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
im State hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie
seine menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm,
der das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von
politischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht,
Treue gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig
wäre, ob er derselben persönlich würdig, ob er auch nur
fähig sei, die Hingebung und Verehrung des Volkes zu ver-
stehen und zu erwiedern? Die Consequenz eines falschen
Princips müszte zu der Behauptung führen: je der blödsinnigste
und schwächste Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und
eigenen Willen hat, wäre der constitutionellste Monarch. 5 Und
eine solche Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein,
welche die Völker haben nach einer wohlorganisirten und
geistig gehobenen Statsordnung?

Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen,
um diese unsinnige Vorstellung zu vertheidigen. Allein auch
in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts weniger
als gleichgültig. 6

5. Auch den berühmten Satz von Thiers: „Le roi règne
mais il ne gouverne pas
“ (der König herrscht aber er regiert
nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des
constitutionell-monarchischen Princips gelten lassen. Ist es
doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben
dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch-

5 Auch Hegel, Rechtsphil. §. 280 geht zu weit, wenn er meint:
„der Monarch habe nur Ja zu sagen, und den Punkt auf das I zu
setzen.“
Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein zu sagen, und nicht blosz den
formellen Entscheid“ zu geben, sondern auch das
reell entscheidende
Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anzuregen und
einzugreifen, wo es noth thut. J. H. Fichte, Beitrag zur Statslehre:
„Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste.“
6 Wer darüber zweifelt, der lese Broughams
Statsmänner, und er
wird sich überzeugen, dasz auch in England eine menschlich-persönliche
Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und seiner
Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf
den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 13, Anm. 3.
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[490/0508] Sechstes Buch. Die Statsformen. im State hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie seine menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm, der das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von politischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht, Treue gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig wäre, ob er derselben persönlich würdig, ob er auch nur fähig sei, die Hingebung und Verehrung des Volkes zu ver- stehen und zu erwiedern? Die Consequenz eines falschen Princips müszte zu der Behauptung führen: je der blödsinnigste und schwächste Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und eigenen Willen hat, wäre der constitutionellste Monarch. 5 Und eine solche Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein, welche die Völker haben nach einer wohlorganisirten und geistig gehobenen Statsordnung? Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen, um diese unsinnige Vorstellung zu vertheidigen. Allein auch in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts weniger als gleichgültig. 6 5. Auch den berühmten Satz von Thiers: „Le roi règne mais il ne gouverne pas“ (der König herrscht aber er regiert nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des constitutionell-monarchischen Princips gelten lassen. Ist es doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch- 5 Auch Hegel, Rechtsphil. §. 280 geht zu weit, wenn er meint: „der Monarch habe nur Ja zu sagen, und den Punkt auf das I zu setzen.“ Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein zu sagen, und nicht blosz den „formellen Entscheid“ zu geben, sondern auch das reell entscheidende Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anzuregen und einzugreifen, wo es noth thut. J. H. Fichte, Beitrag zur Statslehre: „Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste.“ 6 Wer darüber zweifelt, der lese Broughams Statsmänner, und er wird sich überzeugen, dasz auch in England eine menschlich-persönliche Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und seiner Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 13, Anm. 3.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/508>, abgerufen am 24.11.2024.