weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren. 2 Auch die Berner Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt und des Landes zu ergänzen verstand.
Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität. Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge- achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüm- lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Rasse) ent- scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels- aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das ständische Recht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver- fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten diesen Charakter. Der Vorzug der Bildung und Erziehung kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie führen. Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Regierungs- fähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie der Alder- männer und des Senats. Gilt die kriegerische Aus- zeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie des Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer- gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz allein oder auch das bewegliche Vermögen beachtet wird, eine grundherrliche oder eine Capitalistenaristokratie, die Plutokratie, nach Cicero's Urtheil die häszlichste aller Statsformen. 3 Die Aristokratie der Optimaten hat vorzugs- weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl
2 Sehr gute Bemerkungen darüber hat Machiavelli zu Livius I, 6, gemacht.
3Cicero de Rep. I. 34: "nec ulla deformior species est civitatis quam illa in qua opulentissimi optimi putantur." Herrschaft der haute finance (Bankiers). Vgl. darüber Leo, Naturlehre d. Stats. S. 89 ff.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren. 2 Auch die Berner Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt und des Landes zu ergänzen verstand.
Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität. Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge- achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüm- lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Rasse) ent- scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels- aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das ständische Recht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver- fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten diesen Charakter. Der Vorzug der Bildung und Erziehung kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie führen. Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Regierungs- fähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie der Alder- männer und des Senats. Gilt die kriegerische Aus- zeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie des Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer- gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz allein oder auch das bewegliche Vermögen beachtet wird, eine grundherrliche oder eine Capitalistenaristokratie, die Plutokratie, nach Cicero's Urtheil die häszlichste aller Statsformen. 3 Die Aristokratie der Optimaten hat vorzugs- weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl
2 Sehr gute Bemerkungen darüber hat Machiavelli zu Livius I, 6, gemacht.
3Cicero de Rep. I. 34: „nec ulla deformior species est civitatis quam illa in qua opulentissimi optimi putantur.“ Herrschaft der haute finance (Bankiers). Vgl. darüber Leo, Naturlehre d. Stats. S. 89 ff.
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Sechstes Buch. Die Statsformen.
weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene
Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und
konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren. 2 Auch die
Berner Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des
Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie
sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt
und des Landes zu ergänzen verstand.
Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität.
Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge-
achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüm-
lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation
ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Rasse) ent-
scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels-
aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das
ständische Recht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver-
fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten
diesen Charakter. Der Vorzug der Bildung und Erziehung
kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie führen.
Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Regierungs-
fähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie der Alder-
männer und des Senats. Gilt die kriegerische Aus-
zeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie des
Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer-
gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz
allein oder auch das bewegliche Vermögen beachtet wird, eine
grundherrliche oder eine Capitalistenaristokratie,
die Plutokratie, nach Cicero's Urtheil die häszlichste aller
Statsformen. 3 Die Aristokratie der Optimaten hat vorzugs-
weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl
2 Sehr gute Bemerkungen darüber hat Machiavelli zu Livius I, 6,
gemacht.
3 Cicero de Rep. I. 34: „nec ulla deformior species est civitatis quam
illa in qua opulentissimi optimi putantur.“ Herrschaft der haute finance
(Bankiers). Vgl. darüber Leo, Naturlehre d. Stats. S. 89 ff.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/536>, abgerufen am 24.11.2024.
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