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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz-
regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen
vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft
auch das Schuldig ausgesprochen. Die Entartung, welche
rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte
die Miszbräuche dieser Volksjustiz.

In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an-
wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo
die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien
Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter
einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles
zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes
gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr-
schaft sich grosze Reichthümer aufhäuften und reichlicher
Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den
Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt,
eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren
und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit
gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im
Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige
Consequenz der Demokratie erklären, "dasz in ihr das Loos
der Schlechten besser sei als das der Guten."3

Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach
der Solonischen Verfassung durch den Rath zum Theil be-
schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Rath selbst hatte
Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den
vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem

3 Xenophon
über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19.)
versichert er, " das Volk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden
zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über-
zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern
zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz
der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und
Herrscher sei." (I. 8.)
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 34

Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr.
hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz-
regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen
vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft
auch das Schuldig ausgesprochen. Die Entartung, welche
rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte
die Miszbräuche dieser Volksjustiz.

In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an-
wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo
die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien
Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter
einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles
zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes
gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr-
schaft sich grosze Reichthümer aufhäuften und reichlicher
Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den
Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt,
eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren
und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit
gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im
Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige
Consequenz der Demokratie erklären, „dasz in ihr das Loos
der Schlechten besser sei als das der Guten.“3

Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach
der Solonischen Verfassung durch den Rath zum Theil be-
schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Rath selbst hatte
Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den
vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem

3 Xenophon
über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19.)
versichert er, „ das Volk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden
zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über-
zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern
zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz
der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und
Herrscher sei.“ (I. 8.)
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 34
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[529/0547] Zwanzigstes Cap. IV. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz- regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft auch das Schuldig ausgesprochen. Die Entartung, welche rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte die Miszbräuche dieser Volksjustiz. In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an- wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr- schaft sich grosze Reichthümer aufhäuften und reichlicher Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt, eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige Consequenz der Demokratie erklären, „dasz in ihr das Loos der Schlechten besser sei als das der Guten.“ 3 Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach der Solonischen Verfassung durch den Rath zum Theil be- schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Rath selbst hatte Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem 3 Xenophon über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19.) versichert er, „ das Volk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über- zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und Herrscher sei.“ (I. 8.) Bluntschli, allgemeine Statslehre. 34

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/547>, abgerufen am 23.11.2024.