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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes
äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der-
gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler
vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per-
sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören.
Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie
Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die-
nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt.

In diesen groszen Volksversammlungen aber entwickelt
sich leicht ein Gefühl von unbeschränkter Macht, welches
hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und
leicht launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der
Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird
in der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen
und imposanten Menge von dem Geiste und den Leidenschaften
der Masse ergriffen, und zu Willensäuszerungen fortgerissen,
die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen hat.
Ist einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen,
genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu-
spielen, die Stimmung der Menge wie ein brausender Strom
in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht
zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und
maszlos zu überfluthen. 1


1 Edm. Burke spricht das schön aus: "Wo die Autorität des Vol-
kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein unendlich
gröszeres, weil ein besser gegründetes Vertrauen auf seine Macht. Es
ist selbst, bei groszen Maszregeln, sein eigenes Werkzeug, während der
Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen-
stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver-
antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur-
theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an
welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt,
Theil hat, ist für das Volk nur gering, indem die Selbständigkeit der
öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Verhältnisz zu der Zahl
derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie
ist daher das schamloseste Ding auf der Welt."

Sechstes Buch. Die Statsformen.
aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes
äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der-
gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler
vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per-
sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören.
Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie
Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die-
nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt.

In diesen groszen Volksversammlungen aber entwickelt
sich leicht ein Gefühl von unbeschränkter Macht, welches
hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und
leicht launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der
Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird
in der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen
und imposanten Menge von dem Geiste und den Leidenschaften
der Masse ergriffen, und zu Willensäuszerungen fortgerissen,
die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen hat.
Ist einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen,
genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu-
spielen, die Stimmung der Menge wie ein brausender Strom
in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht
zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und
maszlos zu überfluthen. 1


1 Edm. Burke spricht das schön aus: „Wo die Autorität des Vol-
kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein unendlich
gröszeres, weil ein besser gegründetes Vertrauen auf seine Macht. Es
ist selbst, bei groszen Maszregeln, sein eigenes Werkzeug, während der
Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen-
stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver-
antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur-
theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an
welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt,
Theil hat, ist für das Volk nur gering, indem die Selbständigkeit der
öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Verhältnisz zu der Zahl
derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie
ist daher das schamloseste Ding auf der Welt.“
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[532/0550] Sechstes Buch. Die Statsformen. aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der- gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per- sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören. Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die- nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt. In diesen groszen Volksversammlungen aber entwickelt sich leicht ein Gefühl von unbeschränkter Macht, welches hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und leicht launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird in der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen und imposanten Menge von dem Geiste und den Leidenschaften der Masse ergriffen, und zu Willensäuszerungen fortgerissen, die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen hat. Ist einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen, genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu- spielen, die Stimmung der Menge wie ein brausender Strom in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und maszlos zu überfluthen. 1 1 Edm. Burke spricht das schön aus: „Wo die Autorität des Vol- kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein unendlich gröszeres, weil ein besser gegründetes Vertrauen auf seine Macht. Es ist selbst, bei groszen Maszregeln, sein eigenes Werkzeug, während der Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen- stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver- antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur- theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt, Theil hat, ist für das Volk nur gering, indem die Selbständigkeit der öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Verhältnisz zu der Zahl derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie ist daher das schamloseste Ding auf der Welt.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/550>, abgerufen am 22.11.2024.