Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
in der Schweiz, wohin sie durch die französische Vermitt- lung verpflanzt ward.
In der Schweiz hatte sich, obwohl die gröszeren Cantone früher aristokratisch regiert wurden, die einen, wie Bern, Freyburg, Solothurn und Luzern durch einen erblich gewordenen Herrscherstand der Patricier, die andern, wie Zürich, Basel, Schafhausen, eine freie Gemeindever- fassung erhalten, welche als die Grundlage des Gemeinwesens angesehen wurde, und hatte die Republik, das politische Ideal des Volks, auch in dem Charakter und in den Sitten des Volkes tiefe Wurzeln. Es gab weder stehende Truppen noch gesicherte Berufsbeamte. Im Kampfe mit den Fürsten und mit dem Adel war die Schweizerfreiheit erstritten worden. Es war daher eine naturgemäsze Ausdehnung derselben, als nun in Harmonie mit der modernen Statslehre, die bürger- liche Freiheit auf alle Classen und auf das ganze Land aus- gedehnt und die aristokratischen Privilegien der Patricier und der Stadtbürger beseitigt wurden. Damit war der Uebergang aus der aristokratischen Republik in die repräsentative voll- zogen. 1
Der Versuch freilich, die ganze Schweiz zu einer neuen einheitlichen Repräsentativdemokratie zu gestalten, im Jahr 1798, war wieder nicht von Dauer. Die geschichtlichen Erinnerungen der früheren Cantone an ihre Selbständigkeit waren zu mächtig und die inneren Gegensätze zu stark, um sich der Einen helvetischen Republik unterzuordnen. Die Ein- heitsverfassung wurde wieder aufgelöst. Aber in vielen Can- tonen, insbesondere in den Städtecantonen und in den neuen
1Mediationsacte von 1803. XX. 3: "Il n'y a plus en Suisse ni pays sujets, ni privileges de lieux, de naissance, de personnes ou de familles." Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes- verf. von 1848. und von 1874. Art. 4: "Es gibt in der Schweiz keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Fa- milien oder Personen."
Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
in der Schweiz, wohin sie durch die französische Vermitt- lung verpflanzt ward.
In der Schweiz hatte sich, obwohl die gröszeren Cantone früher aristokratisch regiert wurden, die einen, wie Bern, Freyburg, Solothurn und Luzern durch einen erblich gewordenen Herrscherstand der Patricier, die andern, wie Zürich, Basel, Schafhausen, eine freie Gemeindever- fassung erhalten, welche als die Grundlage des Gemeinwesens angesehen wurde, und hatte die Republik, das politische Ideal des Volks, auch in dem Charakter und in den Sitten des Volkes tiefe Wurzeln. Es gab weder stehende Truppen noch gesicherte Berufsbeamte. Im Kampfe mit den Fürsten und mit dem Adel war die Schweizerfreiheit erstritten worden. Es war daher eine naturgemäsze Ausdehnung derselben, als nun in Harmonie mit der modernen Statslehre, die bürger- liche Freiheit auf alle Classen und auf das ganze Land aus- gedehnt und die aristokratischen Privilegien der Patricier und der Stadtbürger beseitigt wurden. Damit war der Uebergang aus der aristokratischen Republik in die repräsentative voll- zogen. 1
Der Versuch freilich, die ganze Schweiz zu einer neuen einheitlichen Repräsentativdemokratie zu gestalten, im Jahr 1798, war wieder nicht von Dauer. Die geschichtlichen Erinnerungen der früheren Cantone an ihre Selbständigkeit waren zu mächtig und die inneren Gegensätze zu stark, um sich der Einen helvetischen Republik unterzuordnen. Die Ein- heitsverfassung wurde wieder aufgelöst. Aber in vielen Can- tonen, insbesondere in den Städtecantonen und in den neuen
1Mediationsacte von 1803. XX. 3: „Il n'y a plus en Suisse ni pays sujets, ni privilèges de lieux, de naissance, de personnes ou de familles.“ Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes- verf. von 1848. und von 1874. Art. 4: „Es gibt in der Schweiz keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Fa- milien oder Personen.“
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Zweiundzwanzigstes Cap. IV. Demokr. Statsformen. B. Repräsentat. Demokr.
in der Schweiz, wohin sie durch die französische Vermitt-
lung verpflanzt ward.
In der Schweiz hatte sich, obwohl die gröszeren Cantone
früher aristokratisch regiert wurden, die einen, wie Bern,
Freyburg, Solothurn und Luzern durch einen erblich
gewordenen Herrscherstand der Patricier, die andern, wie
Zürich, Basel, Schafhausen, eine freie Gemeindever-
fassung erhalten, welche als die Grundlage des Gemeinwesens
angesehen wurde, und hatte die Republik, das politische
Ideal des Volks, auch in dem Charakter und in den Sitten
des Volkes tiefe Wurzeln. Es gab weder stehende Truppen
noch gesicherte Berufsbeamte. Im Kampfe mit den Fürsten
und mit dem Adel war die Schweizerfreiheit erstritten worden.
Es war daher eine naturgemäsze Ausdehnung derselben, als
nun in Harmonie mit der modernen Statslehre, die bürger-
liche Freiheit auf alle Classen und auf das ganze Land aus-
gedehnt und die aristokratischen Privilegien der Patricier und
der Stadtbürger beseitigt wurden. Damit war der Uebergang
aus der aristokratischen Republik in die repräsentative voll-
zogen. 1
Der Versuch freilich, die ganze Schweiz zu einer neuen
einheitlichen Repräsentativdemokratie zu gestalten, im Jahr
1798, war wieder nicht von Dauer. Die geschichtlichen
Erinnerungen der früheren Cantone an ihre Selbständigkeit
waren zu mächtig und die inneren Gegensätze zu stark, um
sich der Einen helvetischen Republik unterzuordnen. Die Ein-
heitsverfassung wurde wieder aufgelöst. Aber in vielen Can-
tonen, insbesondere in den Städtecantonen und in den neuen
1 Mediationsacte von 1803. XX. 3: „Il n'y a plus en Suisse ni
pays sujets, ni privilèges de lieux, de naissance, de personnes ou de
familles.“ Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes-
verf. von 1848. und von 1874. Art. 4: „Es gibt in der Schweiz keine
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Fa-
milien oder Personen.“
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/561>, abgerufen am 22.11.2024.
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