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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Aufgabe hat. In diesem Sinne haben französische Publicisten
-- nach dem entgegengesetzten Sprachgebrauch der Franzosen
und der Deutschen -- diese Souveränetät auch wohl "Sou-
verainete de la nation" genannt. 4 Gegenwärtig aber wäre jene
Bezeichnung den heftigsten Miszverständnissen ausgesetzt, und
daher haben wir den unverfänglichen Ausdruck Statssouverä-
netät gewählt.

Diese Statssouveränetät zeigt sich nach Aussen und im
Innern, dort als Selbständigkeit und Unabhängigkeit eines
jeden Einzelstates im Verhältnisz zu den andern Einzelstaten,
beziehungsweise auch des Weltreiches gegenüber der Kirche,
hier als gesetzgebende Macht des ganzen geordneten Volks-
körpers.

In diesem Sinne pflegen auch die Engländer ihrem Par-
lamente, an dessen Spitze der König steht, und welches das
gesammte Volk darstellt, Souveränetät zuzuschreiben. 5 Es ist

4 Stüve, Sendschreiben von 1848: "Den Satz, dasz dem Volke, der
Nation: Souveränetät zustehen müsse, wird Niemand bestreiten, sobald
man die wahre Gesammtheit der Nation in ihrer verfassungsmäszi-
gen Gestaltung
, also Fürst und Volk, als das Subject der Souverä-
netät betrachtet. Macht man aber den Anspruch, dasz nicht das Ganze
einer solchen festgegliederten Ordnung, sondern irgend ein einzelner
Theil, sei es der Fürst, der da ruft: Ich bin der Stat, oder das Parla-
ment, welches den König entfernt oder wohl gar die blosze Menge der
Individuen im Lande das Volk ausmachen, so ist der Begriff in sich
unwahr und jede Folgerung aus dem Unwahren führt zum Verderben."
Sismondi, Etudes I, p. 88 unterscheidet ebenso scharf zwischen der
"souverainete du peuple" (der Nation), die er verwirft, und der "sou-
verainete de la nation" (des Volks), die er anerkennt.
5 Dieser Gedanke ist bereits in einer Rede des Königs Heinrich VIII.
von England im Parlament ausgesprochen: "Gleicherweise vernehmen
wir von den Richtern, dasz unsere königliche Würde nie erhabener steht,
als während der Parlamentsversammlungen, wo wir als Haupt und ihr
als Glieder dermaszen zu einem politischen Körper verbunden und ver-
einigt sind, dasz unserer eigenen Person und dem gesammten Parlament
für geschehen und angethan gilt, was auch nur dem geringsten Mitgliede
des Hauses widerfährt." John Russell, Geschichte der englischen
Verfassung etc. 3.

Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Aufgabe hat. In diesem Sinne haben französische Publicisten
— nach dem entgegengesetzten Sprachgebrauch der Franzosen
und der Deutschen — diese Souveränetät auch wohl „Sou-
veraineté de la nation“ genannt. 4 Gegenwärtig aber wäre jene
Bezeichnung den heftigsten Miszverständnissen ausgesetzt, und
daher haben wir den unverfänglichen Ausdruck Statssouverä-
netät gewählt.

Diese Statssouveränetät zeigt sich nach Aussen und im
Innern, dort als Selbständigkeit und Unabhängigkeit eines
jeden Einzelstates im Verhältnisz zu den andern Einzelstaten,
beziehungsweise auch des Weltreiches gegenüber der Kirche,
hier als gesetzgebende Macht des ganzen geordneten Volks-
körpers.

In diesem Sinne pflegen auch die Engländer ihrem Par-
lamente, an dessen Spitze der König steht, und welches das
gesammte Volk darstellt, Souveränetät zuzuschreiben. 5 Es ist

4 Stüve, Sendschreiben von 1848: „Den Satz, dasz dem Volke, der
Nation: Souveränetät zustehen müsse, wird Niemand bestreiten, sobald
man die wahre Gesammtheit der Nation in ihrer verfassungsmäszi-
gen Gestaltung
, also Fürst und Volk, als das Subject der Souverä-
netät betrachtet. Macht man aber den Anspruch, dasz nicht das Ganze
einer solchen festgegliederten Ordnung, sondern irgend ein einzelner
Theil, sei es der Fürst, der da ruft: Ich bin der Stat, oder das Parla-
ment, welches den König entfernt oder wohl gar die blosze Menge der
Individuen im Lande das Volk ausmachen, so ist der Begriff in sich
unwahr und jede Folgerung aus dem Unwahren führt zum Verderben.“
Sismondi, Études I, p. 88 unterscheidet ebenso scharf zwischen der
„souveraineté du peuple“ (der Nation), die er verwirft, und der „sou-
veraineté de la nation“ (des Volks), die er anerkennt.
5 Dieser Gedanke ist bereits in einer Rede des Königs Heinrich VIII.
von England im Parlament ausgesprochen: „Gleicherweise vernehmen
wir von den Richtern, dasz unsere königliche Würde nie erhabener steht,
als während der Parlamentsversammlungen, wo wir als Haupt und ihr
als Glieder dermaszen zu einem politischen Körper verbunden und ver-
einigt sind, dasz unserer eigenen Person und dem gesammten Parlament
für geschehen und angethan gilt, was auch nur dem geringsten Mitgliede
des Hauses widerfährt.“ John Russell, Geschichte der englischen
Verfassung etc. 3.
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[571/0589] Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät. Aufgabe hat. In diesem Sinne haben französische Publicisten — nach dem entgegengesetzten Sprachgebrauch der Franzosen und der Deutschen — diese Souveränetät auch wohl „Sou- veraineté de la nation“ genannt. 4 Gegenwärtig aber wäre jene Bezeichnung den heftigsten Miszverständnissen ausgesetzt, und daher haben wir den unverfänglichen Ausdruck Statssouverä- netät gewählt. Diese Statssouveränetät zeigt sich nach Aussen und im Innern, dort als Selbständigkeit und Unabhängigkeit eines jeden Einzelstates im Verhältnisz zu den andern Einzelstaten, beziehungsweise auch des Weltreiches gegenüber der Kirche, hier als gesetzgebende Macht des ganzen geordneten Volks- körpers. In diesem Sinne pflegen auch die Engländer ihrem Par- lamente, an dessen Spitze der König steht, und welches das gesammte Volk darstellt, Souveränetät zuzuschreiben. 5 Es ist 4 Stüve, Sendschreiben von 1848: „Den Satz, dasz dem Volke, der Nation: Souveränetät zustehen müsse, wird Niemand bestreiten, sobald man die wahre Gesammtheit der Nation in ihrer verfassungsmäszi- gen Gestaltung, also Fürst und Volk, als das Subject der Souverä- netät betrachtet. Macht man aber den Anspruch, dasz nicht das Ganze einer solchen festgegliederten Ordnung, sondern irgend ein einzelner Theil, sei es der Fürst, der da ruft: Ich bin der Stat, oder das Parla- ment, welches den König entfernt oder wohl gar die blosze Menge der Individuen im Lande das Volk ausmachen, so ist der Begriff in sich unwahr und jede Folgerung aus dem Unwahren führt zum Verderben.“ Sismondi, Études I, p. 88 unterscheidet ebenso scharf zwischen der „souveraineté du peuple“ (der Nation), die er verwirft, und der „sou- veraineté de la nation“ (des Volks), die er anerkennt. 5 Dieser Gedanke ist bereits in einer Rede des Königs Heinrich VIII. von England im Parlament ausgesprochen: „Gleicherweise vernehmen wir von den Richtern, dasz unsere königliche Würde nie erhabener steht, als während der Parlamentsversammlungen, wo wir als Haupt und ihr als Glieder dermaszen zu einem politischen Körper verbunden und ver- einigt sind, dasz unserer eigenen Person und dem gesammten Parlament für geschehen und angethan gilt, was auch nur dem geringsten Mitgliede des Hauses widerfährt.“ John Russell, Geschichte der englischen Verfassung etc. 3.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/589>, abgerufen am 25.11.2024.