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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Statsverfassung oder eine Verletzung des Rechtsprincips. Desz-
halb sind Revolutionen in der Regel keine Rechtshandlungen,
wenn sie auch mächtige Naturerscheinungen sind, die auch
das öffentliche Recht ändern. Wo die entfesselten Naturkräfte,
welche in der Nation leidenschaftlich erregt sind, mit vulka-
nischer Gewalt die Revolution hervorrufen und bestimmen,
da ist die regelmäszige Wirksamkeit des Statsrechts gestört.
Diesen Ereignissen gegenüber ist das Statsrecht ohnmächtig.
Es ist nicht im Stande, die Revolution in den Bereich seiner
Normen und Gesetze zu ziehen. Es ist wohl eine grosze Auf-
gabe der Politik, die ausgebrochene Revolution so bald als
möglich wieder in die geregelten Bahnen der Reform und der
Statsordnung überzuleiten. War das Recht zu schwach, sie
zu hindern oder die Reform zu träge, ihr zuvorzukommen,
so vermögen beide jetzt nicht mehr sie zu regeln.

Von einem Rechte der Revolution kann daher nur ganz
ausnahmsweise und nur in dem Sinne gesprochen werden,
wie von einem Nothrechte des Volks, seine Existenz zu
retten oder seine nothwendige Entwicklung zu verwirklichen,
wenn die Wege der Reform verschlossen sind. Die Verfassung
ist doch nur die äuszere Organisation des Volks. Wird durch
sie der Stat selbst in die Gefahr des Untergangs versetzt und
das Leben des Volks gelähmt oder werden die vitalen Inter-
essen der öffentlichen Wohlfahrt bedroht, dann wird das Noth-
recht
einer lebensfähigen und lebenskräftigen Natur be-
gründet, sich Luft zu machen und die nothwendig gewordene
Wandlung zu vollziehen: "Die Noth kennt kein Gebot."
4


4 Niebuhr, ein Statsmann, dessen Neigungen so entschieden con-
servativ waren, dasz der Ausbruch der französischen Julirevolution von
1830 ihm das Herz gebrochen, äuszert über diese Frage (Gesch. des Zeit-
alters der Revol. I. S. 211): "Wer den Satz "Noth kennt kein Gebot"
verkennt, redet dem abscheulichsten das Wort. Wenn ein Volk mit
Füszen getreten wird und auf's Blut gemiszhandelt ohne Hoffnung auf
Besserung, wie die Griechen unter den Türken, wo kein Weib ihrer Ehre
sicher war, wo keine Spur von Recht bei den Tyrannen zu erlangen ist;

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Statsverfassung oder eine Verletzung des Rechtsprincips. Desz-
halb sind Revolutionen in der Regel keine Rechtshandlungen,
wenn sie auch mächtige Naturerscheinungen sind, die auch
das öffentliche Recht ändern. Wo die entfesselten Naturkräfte,
welche in der Nation leidenschaftlich erregt sind, mit vulka-
nischer Gewalt die Revolution hervorrufen und bestimmen,
da ist die regelmäszige Wirksamkeit des Statsrechts gestört.
Diesen Ereignissen gegenüber ist das Statsrecht ohnmächtig.
Es ist nicht im Stande, die Revolution in den Bereich seiner
Normen und Gesetze zu ziehen. Es ist wohl eine grosze Auf-
gabe der Politik, die ausgebrochene Revolution so bald als
möglich wieder in die geregelten Bahnen der Reform und der
Statsordnung überzuleiten. War das Recht zu schwach, sie
zu hindern oder die Reform zu träge, ihr zuvorzukommen,
so vermögen beide jetzt nicht mehr sie zu regeln.

Von einem Rechte der Revolution kann daher nur ganz
ausnahmsweise und nur in dem Sinne gesprochen werden,
wie von einem Nothrechte des Volks, seine Existenz zu
retten oder seine nothwendige Entwicklung zu verwirklichen,
wenn die Wege der Reform verschlossen sind. Die Verfassung
ist doch nur die äuszere Organisation des Volks. Wird durch
sie der Stat selbst in die Gefahr des Untergangs versetzt und
das Leben des Volks gelähmt oder werden die vitalen Inter-
essen der öffentlichen Wohlfahrt bedroht, dann wird das Noth-
recht
einer lebensfähigen und lebenskräftigen Natur be-
gründet, sich Luft zu machen und die nothwendig gewordene
Wandlung zu vollziehen: „Die Noth kennt kein Gebot.“
4


4 Niebuhr, ein Statsmann, dessen Neigungen so entschieden con-
servativ waren, dasz der Ausbruch der französischen Julirevolution von
1830 ihm das Herz gebrochen, äuszert über diese Frage (Gesch. des Zeit-
alters der Revol. I. S. 211): „Wer den Satz „Noth kennt kein Gebot“
verkennt, redet dem abscheulichsten das Wort. Wenn ein Volk mit
Füszen getreten wird und auf's Blut gemiszhandelt ohne Hoffnung auf
Besserung, wie die Griechen unter den Türken, wo kein Weib ihrer Ehre
sicher war, wo keine Spur von Recht bei den Tyrannen zu erlangen ist;
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[578/0596] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Statsverfassung oder eine Verletzung des Rechtsprincips. Desz- halb sind Revolutionen in der Regel keine Rechtshandlungen, wenn sie auch mächtige Naturerscheinungen sind, die auch das öffentliche Recht ändern. Wo die entfesselten Naturkräfte, welche in der Nation leidenschaftlich erregt sind, mit vulka- nischer Gewalt die Revolution hervorrufen und bestimmen, da ist die regelmäszige Wirksamkeit des Statsrechts gestört. Diesen Ereignissen gegenüber ist das Statsrecht ohnmächtig. Es ist nicht im Stande, die Revolution in den Bereich seiner Normen und Gesetze zu ziehen. Es ist wohl eine grosze Auf- gabe der Politik, die ausgebrochene Revolution so bald als möglich wieder in die geregelten Bahnen der Reform und der Statsordnung überzuleiten. War das Recht zu schwach, sie zu hindern oder die Reform zu träge, ihr zuvorzukommen, so vermögen beide jetzt nicht mehr sie zu regeln. Von einem Rechte der Revolution kann daher nur ganz ausnahmsweise und nur in dem Sinne gesprochen werden, wie von einem Nothrechte des Volks, seine Existenz zu retten oder seine nothwendige Entwicklung zu verwirklichen, wenn die Wege der Reform verschlossen sind. Die Verfassung ist doch nur die äuszere Organisation des Volks. Wird durch sie der Stat selbst in die Gefahr des Untergangs versetzt und das Leben des Volks gelähmt oder werden die vitalen Inter- essen der öffentlichen Wohlfahrt bedroht, dann wird das Noth- recht einer lebensfähigen und lebenskräftigen Natur be- gründet, sich Luft zu machen und die nothwendig gewordene Wandlung zu vollziehen: „Die Noth kennt kein Gebot.“ 4 4 Niebuhr, ein Statsmann, dessen Neigungen so entschieden con- servativ waren, dasz der Ausbruch der französischen Julirevolution von 1830 ihm das Herz gebrochen, äuszert über diese Frage (Gesch. des Zeit- alters der Revol. I. S. 211): „Wer den Satz „Noth kennt kein Gebot“ verkennt, redet dem abscheulichsten das Wort. Wenn ein Volk mit Füszen getreten wird und auf's Blut gemiszhandelt ohne Hoffnung auf Besserung, wie die Griechen unter den Türken, wo kein Weib ihrer Ehre sicher war, wo keine Spur von Recht bei den Tyrannen zu erlangen ist;

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/596>, abgerufen am 22.11.2024.