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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät.
Volksmehrheit ohne die Regierung nicht zugestanden werden
kann, gebührt dagegen unzweifelhaft dem gesammten Volke
in seiner statlichen Ordnung. Der einzelne Unterthan darf
sich den Anordnungen des Volks nicht widersetzen, selbst
wenn seine politischen Rechte durch dieselben verletzt würden;
denn der obersten Statsmacht musz das Individuum sich auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes unterordnen, soll der
Stat seine Einheit, Zusammenhang und Ordnung bewahren.

Allerdings ist es für die sittliche und die rechtliche Be-
urtheilung nicht gleichgültig, ob die Aenderung auf dem Wege
der Reform oder der Revolution vollzogen werde. Die
Reform setzt voraus: 1) dasz die Aenderung durch den nach
der Verfassung befugten Organismus, in den Repräsentativ-
verfassungen somit durch den Statskörper, welcher die ge-
sammte Nation darstellt, eingeführt werde, d. h. auch formell
rechtmäszig
sei; 2)dasz auch bei der Umgestaltung des
Rechts der Geist des Rechts geachtet, somit das abzuändernde
und aufzuhebende Recht nur insoweit als es wirklich veraltet
und unpassend geworden ist, beseitigt, das neue nur insofern
es reif und in den neuen Lebensverhältnissen begründet er-
scheint, hervorgebracht werde.

Wird entweder die Form der Verfassung miszachtet, oder
in dem Inhalte der Aenderung das Princip des Rechts verletzt,
so ist ein solcher Act nicht mehr Reform, sondern Revolution.

Das Recht der Reform ist eine nothwendige Aeusze-
rung der Lebenskraft des Stats. Dieses Recht bestreiten heiszt
die Entwicklung des Volks läugnen und die Revolution veran-
lassen.

Die radicale Statslehre behauptet aber auch ein Recht
des Volks zur Revolution. Aber schon der Begriff des
Statsrechts steht dieser Annahme entgegen, denn die Revo-
lution ist entweder ein gewaltsamer Bruch der bestehenden

keit der bestehenden Regierung zu behindern oder aufzuhalten, ist in
directem Widerspruch mit dem aufgestellten Princip."
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 37

Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät.
Volksmehrheit ohne die Regierung nicht zugestanden werden
kann, gebührt dagegen unzweifelhaft dem gesammten Volke
in seiner statlichen Ordnung. Der einzelne Unterthan darf
sich den Anordnungen des Volks nicht widersetzen, selbst
wenn seine politischen Rechte durch dieselben verletzt würden;
denn der obersten Statsmacht musz das Individuum sich auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes unterordnen, soll der
Stat seine Einheit, Zusammenhang und Ordnung bewahren.

Allerdings ist es für die sittliche und die rechtliche Be-
urtheilung nicht gleichgültig, ob die Aenderung auf dem Wege
der Reform oder der Revolution vollzogen werde. Die
Reform setzt voraus: 1) dasz die Aenderung durch den nach
der Verfassung befugten Organismus, in den Repräsentativ-
verfassungen somit durch den Statskörper, welcher die ge-
sammte Nation darstellt, eingeführt werde, d. h. auch formell
rechtmäszig
sei; 2)dasz auch bei der Umgestaltung des
Rechts der Geist des Rechts geachtet, somit das abzuändernde
und aufzuhebende Recht nur insoweit als es wirklich veraltet
und unpassend geworden ist, beseitigt, das neue nur insofern
es reif und in den neuen Lebensverhältnissen begründet er-
scheint, hervorgebracht werde.

Wird entweder die Form der Verfassung miszachtet, oder
in dem Inhalte der Aenderung das Princip des Rechts verletzt,
so ist ein solcher Act nicht mehr Reform, sondern Revolution.

Das Recht der Reform ist eine nothwendige Aeusze-
rung der Lebenskraft des Stats. Dieses Recht bestreiten heiszt
die Entwicklung des Volks läugnen und die Revolution veran-
lassen.

Die radicale Statslehre behauptet aber auch ein Recht
des Volks zur Revolution. Aber schon der Begriff des
Statsrechts steht dieser Annahme entgegen, denn die Revo-
lution ist entweder ein gewaltsamer Bruch der bestehenden

keit der bestehenden Regierung zu behindern oder aufzuhalten, ist in
directem Widerspruch mit dem aufgestellten Princip.“
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 37
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[577/0595] Drittes Capitel. I. Inhalt der Statssouveränetät. Volksmehrheit ohne die Regierung nicht zugestanden werden kann, gebührt dagegen unzweifelhaft dem gesammten Volke in seiner statlichen Ordnung. Der einzelne Unterthan darf sich den Anordnungen des Volks nicht widersetzen, selbst wenn seine politischen Rechte durch dieselben verletzt würden; denn der obersten Statsmacht musz das Individuum sich auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes unterordnen, soll der Stat seine Einheit, Zusammenhang und Ordnung bewahren. Allerdings ist es für die sittliche und die rechtliche Be- urtheilung nicht gleichgültig, ob die Aenderung auf dem Wege der Reform oder der Revolution vollzogen werde. Die Reform setzt voraus: 1) dasz die Aenderung durch den nach der Verfassung befugten Organismus, in den Repräsentativ- verfassungen somit durch den Statskörper, welcher die ge- sammte Nation darstellt, eingeführt werde, d. h. auch formell rechtmäszig sei; 2)dasz auch bei der Umgestaltung des Rechts der Geist des Rechts geachtet, somit das abzuändernde und aufzuhebende Recht nur insoweit als es wirklich veraltet und unpassend geworden ist, beseitigt, das neue nur insofern es reif und in den neuen Lebensverhältnissen begründet er- scheint, hervorgebracht werde. Wird entweder die Form der Verfassung miszachtet, oder in dem Inhalte der Aenderung das Princip des Rechts verletzt, so ist ein solcher Act nicht mehr Reform, sondern Revolution. Das Recht der Reform ist eine nothwendige Aeusze- rung der Lebenskraft des Stats. Dieses Recht bestreiten heiszt die Entwicklung des Volks läugnen und die Revolution veran- lassen. Die radicale Statslehre behauptet aber auch ein Recht des Volks zur Revolution. Aber schon der Begriff des Statsrechts steht dieser Annahme entgegen, denn die Revo- lution ist entweder ein gewaltsamer Bruch der bestehenden 3 3 keit der bestehenden Regierung zu behindern oder aufzuhalten, ist in directem Widerspruch mit dem aufgestellten Princip.“ Bluntschli, allgemeine Statslehre. 37

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/595>, abgerufen am 22.11.2024.