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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Souveränetät. So spricht man in der Schweiz von der Can-
tonalsouveränetät
für den Bereich der Cantonalangelegen-
heiten im Gegensatze zu der Bundessouveränetät für die
Bundessachen. Aehnlich ist in Nordamerika und im deutschen
Reich zwischen der Souveränetät des Gesammtstats (Union,
Reich) und der verbündeten Länder zu unterscheiden.

Von einer relativen Souveränetät des dem Gesammtstate
(Bund oder Reich) untergeordneten Einzelstates läszt sich
indessen nur da noch reden, wo dieser noch für sich als Stat
organisirt ist, d. h. alle wesentlichen Organe (gesetzgebender
Körper, Regierung u. s. f.) noch in sich und damit auch ein
ihm eigenthümliches Statsleben hat und selbstkräftig übt, aber
nicht da mehr, wo er in das Verhältnisz eines bloszen
Theils -- einer Provinz -- des gröszeren Ganzen gebracht
worden ist. Wie in allen relativen Verhältnissen, so gibt es
auch hier einen kaum bemerkbaren Uebergang von einem
zum andern.

Nach auszen wird die Statssouveränetät in unsrer Zeit
gewöhnlich durch das Statshaupt repräsentirt, nicht durch
den gesetzgebenden Körper, aber mehr aus Gründen der
Zweckmäszigkeit, als aus Rechtsgründen.

3. Im Innern äuszert sich die Souveränetät vorerst in
dem Rechte des Volks, die Formen seines statlichen Da-
seins selbständig zu bestimmen
, nöthigenfalls zu ändern.
Man nennt diese Befugnisz auch wohl die constituirende
Gewalt des Volkes. 3 Was einem Theile des Volkes, der bloszen

3 Washington Abschiedsrede von 1769: "Die Grundlage unsers
politischen Systemes ist das anerkannte Recht des Volkes, seine Ver-
fassung zu constituiren und zu ändern. Aber bis dasz dieselbe umge-
wandelt oder abgeändert ist durch einen offenbaren Act des National-
willens, musz die Verfassung von jedem Bürger verbindlich und heilig
geachtet werden. Das Recht und die Macht des Volkes eine Verfassung
einzuführen, schlieszt die Idee in sich, dasz jeder Einzelne sich derjeni-
gen unterwerfen musz, die eingeführt ist. Jede Opposition gegen die
Ausführung der Gesetze, jede Verbindung die darauf ausgeht, die Thätig-

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Souveränetät. So spricht man in der Schweiz von der Can-
tonalsouveränetät
für den Bereich der Cantonalangelegen-
heiten im Gegensatze zu der Bundessouveränetät für die
Bundessachen. Aehnlich ist in Nordamerika und im deutschen
Reich zwischen der Souveränetät des Gesammtstats (Union,
Reich) und der verbündeten Länder zu unterscheiden.

Von einer relativen Souveränetät des dem Gesammtstate
(Bund oder Reich) untergeordneten Einzelstates läszt sich
indessen nur da noch reden, wo dieser noch für sich als Stat
organisirt ist, d. h. alle wesentlichen Organe (gesetzgebender
Körper, Regierung u. s. f.) noch in sich und damit auch ein
ihm eigenthümliches Statsleben hat und selbstkräftig übt, aber
nicht da mehr, wo er in das Verhältnisz eines bloszen
Theils — einer Provinz — des gröszeren Ganzen gebracht
worden ist. Wie in allen relativen Verhältnissen, so gibt es
auch hier einen kaum bemerkbaren Uebergang von einem
zum andern.

Nach auszen wird die Statssouveränetät in unsrer Zeit
gewöhnlich durch das Statshaupt repräsentirt, nicht durch
den gesetzgebenden Körper, aber mehr aus Gründen der
Zweckmäszigkeit, als aus Rechtsgründen.

3. Im Innern äuszert sich die Souveränetät vorerst in
dem Rechte des Volks, die Formen seines statlichen Da-
seins selbständig zu bestimmen
, nöthigenfalls zu ändern.
Man nennt diese Befugnisz auch wohl die constituirende
Gewalt des Volkes. 3 Was einem Theile des Volkes, der bloszen

3 Washington Abschiedsrede von 1769: „Die Grundlage unsers
politischen Systemes ist das anerkannte Recht des Volkes, seine Ver-
fassung zu constituiren und zu ändern. Aber bis dasz dieselbe umge-
wandelt oder abgeändert ist durch einen offenbaren Act des National-
willens, musz die Verfassung von jedem Bürger verbindlich und heilig
geachtet werden. Das Recht und die Macht des Volkes eine Verfassung
einzuführen, schlieszt die Idee in sich, dasz jeder Einzelne sich derjeni-
gen unterwerfen musz, die eingeführt ist. Jede Opposition gegen die
Ausführung der Gesetze, jede Verbindung die darauf ausgeht, die Thätig-
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[576/0594] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Souveränetät. So spricht man in der Schweiz von der Can- tonalsouveränetät für den Bereich der Cantonalangelegen- heiten im Gegensatze zu der Bundessouveränetät für die Bundessachen. Aehnlich ist in Nordamerika und im deutschen Reich zwischen der Souveränetät des Gesammtstats (Union, Reich) und der verbündeten Länder zu unterscheiden. Von einer relativen Souveränetät des dem Gesammtstate (Bund oder Reich) untergeordneten Einzelstates läszt sich indessen nur da noch reden, wo dieser noch für sich als Stat organisirt ist, d. h. alle wesentlichen Organe (gesetzgebender Körper, Regierung u. s. f.) noch in sich und damit auch ein ihm eigenthümliches Statsleben hat und selbstkräftig übt, aber nicht da mehr, wo er in das Verhältnisz eines bloszen Theils — einer Provinz — des gröszeren Ganzen gebracht worden ist. Wie in allen relativen Verhältnissen, so gibt es auch hier einen kaum bemerkbaren Uebergang von einem zum andern. Nach auszen wird die Statssouveränetät in unsrer Zeit gewöhnlich durch das Statshaupt repräsentirt, nicht durch den gesetzgebenden Körper, aber mehr aus Gründen der Zweckmäszigkeit, als aus Rechtsgründen. 3. Im Innern äuszert sich die Souveränetät vorerst in dem Rechte des Volks, die Formen seines statlichen Da- seins selbständig zu bestimmen, nöthigenfalls zu ändern. Man nennt diese Befugnisz auch wohl die constituirende Gewalt des Volkes. 3 Was einem Theile des Volkes, der bloszen 3 Washington Abschiedsrede von 1769: „Die Grundlage unsers politischen Systemes ist das anerkannte Recht des Volkes, seine Ver- fassung zu constituiren und zu ändern. Aber bis dasz dieselbe umge- wandelt oder abgeändert ist durch einen offenbaren Act des National- willens, musz die Verfassung von jedem Bürger verbindlich und heilig geachtet werden. Das Recht und die Macht des Volkes eine Verfassung einzuführen, schlieszt die Idee in sich, dasz jeder Einzelne sich derjeni- gen unterwerfen musz, die eingeführt ist. Jede Opposition gegen die Ausführung der Gesetze, jede Verbindung die darauf ausgeht, die Thätig-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/594>, abgerufen am 22.11.2024.