Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
[Spaltenumbruch]
Mittelalterlicher Stat.
protestantische Theologie ver- warf die Idee des geistlichen Schwertes und erkannte nur das Eine Schwert des States an; aber auch sie hielt an dem religiösen Gedanken fest, dasz die obrigkeitliche Gewalt von Gott komme.
3. Das Ideal des mittelalter- lichen States ist zwar nicht mehr, wie das der alten orien- talischen Völker, die unmittel- bare Theokratie, aber die mit- telbare Theokratie. Der Herrscher ist Stellvertre- ter Gottes.
4. Der mittelalterliche Stat ruht auf der Glaubensge- meinschaft und fordert Glaubenseinheit. Die Un- gläubigen und Irrgläubigen
[Spaltenumbruch]
Moderner Stat.
nicht religiös, aber sie ist darum nicht irreligiös, d. h. sie macht den Stat nicht ab- hängig von dem religiösen Glauben, aber sie läugnet nicht, dasz Gott die mensch- liche Natur geschaffen und an der Weltregierung sich in dem Schicksal eine Mitleitung vor- behalten habe. Die moderne Statswissenschaft bescheidet sich, den Gedanken Gottes nicht ergründen zu können, aber sie bemüht sich, den Stat menschlich zu begreifen.
3. Dem politischen Bewuszt- sein der modernen Völker ist alle Theokratie verhaszt. Der moderne Stat ist eine mensch- liche Verfassungsord- nung. Die moderne Stats- gewalt ist durch das öffent- liche Recht bedingt, und ihre Politik strebt die Volkswohl- fahrt an, wie sie dieselbe mit menschlichem Verstande be- greift und mit menschlichen Mitteln durchführt.
4. Der moderne Stat be- trachtet die Religion nicht als eine Bedingung des Rechts. Das öffentliche und das Pri- vatrecht sind unabhängig
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 5
Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
[Spaltenumbruch]
Mittelalterlicher Stat.
protestantische Theologie ver- warf die Idee des geistlichen Schwertes und erkannte nur das Eine Schwert des States an; aber auch sie hielt an dem religiösen Gedanken fest, dasz die obrigkeitliche Gewalt von Gott komme.
3. Das Ideal des mittelalter- lichen States ist zwar nicht mehr, wie das der alten orien- talischen Völker, die unmittel- bare Theokratie, aber die mit- telbare Theokratie. Der Herrscher ist Stellvertre- ter Gottes.
4. Der mittelalterliche Stat ruht auf der Glaubensge- meinschaft und fordert Glaubenseinheit. Die Un- gläubigen und Irrgläubigen
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Moderner Stat.
nicht religiös, aber sie ist darum nicht irreligiös, d. h. sie macht den Stat nicht ab- hängig von dem religiösen Glauben, aber sie läugnet nicht, dasz Gott die mensch- liche Natur geschaffen und an der Weltregierung sich in dem Schicksal eine Mitleitung vor- behalten habe. Die moderne Statswissenschaft bescheidet sich, den Gedanken Gottes nicht ergründen zu können, aber sie bemüht sich, den Stat menschlich zu begreifen.
3. Dem politischen Bewuszt- sein der modernen Völker ist alle Theokratie verhaszt. Der moderne Stat ist eine mensch- liche Verfassungsord- nung. Die moderne Stats- gewalt ist durch das öffent- liche Recht bedingt, und ihre Politik strebt die Volkswohl- fahrt an, wie sie dieselbe mit menschlichem Verstande be- greift und mit menschlichen Mitteln durchführt.
4. Der moderne Stat be- trachtet die Religion nicht als eine Bedingung des Rechts. Das öffentliche und das Pri- vatrecht sind unabhängig
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 5
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Sechstes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
Mittelalterlicher Stat.
protestantische Theologie ver-
warf die Idee des geistlichen
Schwertes und erkannte nur
das Eine Schwert des States
an; aber auch sie hielt an
dem religiösen Gedanken fest,
dasz die obrigkeitliche Gewalt
von Gott komme.
3. Das Ideal des mittelalter-
lichen States ist zwar nicht
mehr, wie das der alten orien-
talischen Völker, die unmittel-
bare Theokratie, aber die mit-
telbare Theokratie. Der
Herrscher ist Stellvertre-
ter Gottes.
4. Der mittelalterliche Stat
ruht auf der Glaubensge-
meinschaft und fordert
Glaubenseinheit. Die Un-
gläubigen und Irrgläubigen
Moderner Stat.
nicht religiös, aber sie ist
darum nicht irreligiös, d. h.
sie macht den Stat nicht ab-
hängig von dem religiösen
Glauben, aber sie läugnet
nicht, dasz Gott die mensch-
liche Natur geschaffen und an
der Weltregierung sich in dem
Schicksal eine Mitleitung vor-
behalten habe. Die moderne
Statswissenschaft bescheidet
sich, den Gedanken Gottes
nicht ergründen zu können,
aber sie bemüht sich, den
Stat menschlich zu begreifen.
3. Dem politischen Bewuszt-
sein der modernen Völker ist
alle Theokratie verhaszt. Der
moderne Stat ist eine mensch-
liche Verfassungsord-
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gewalt ist durch das öffent-
liche Recht bedingt, und ihre
Politik strebt die Volkswohl-
fahrt an, wie sie dieselbe mit
menschlichem Verstande be-
greift und mit menschlichen
Mitteln durchführt.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/83>, abgerufen am 26.11.2024.
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