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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.

[Spaltenumbruch]

Mittelalterlicher Stat.

haben kein statliches Recht.
Sie werden verfolgt und aus-
gerottet, im günstigsten Falle
nur geduldet.

5. Das christliche Mittel-
alter betrachtet die Kirche
als das geistige und daher
höhere, den Stat als das leib-
liche
und daher niedere
Reich. Damit ist die Herr-
schaft oder doch die Vormund-
schaft des Priesterthums
über das Fürstenthum be-
gründet. Der Klerus steht
hoch über den Laien und ist
durch Immunitäten privi-
legirt.

6. Im Mittelalter leitet die
Kirche die Erziehung der
Jugend und übt ihre Autori-
tät auch über die Wissen-
schaft
aus.


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

von dem Glauben. Der
moderne Stat schützt die Be-
kenntniszfreiheit und einigt
friedlich verschiedene
Kirchen und Religions-
genossenschaften
. Er ent-
hält sich jeder Verfolgung von
Andersgläubigen oder von Un-
gläubigen.

5. Der moderne Stat be-
trachtet sich als eine Per-
son
, die zugleich aus Geist
(dem Volksgeist) und Leib,
der Verfassung, besteht. Er
fühlt sich auch der Kirche
gegenüber, die ebenfalls eine
aus Geist und Körper beste-
hende religiöse Gesammtper-
son ist, unabhängig und frei
und behauptet seine Hoheit
auch über die Kirche. Er
erkennt keine Ueberordnung
des Klerus an, verwirft die
Privilegien der Immunitäten
und breitet seine Rechtsherr-
schaft über alle Classen gleich-
mäszig aus.

6. Der moderne Stat über-
läszt nur die religiöse Er-
ziehung der Kirche. Die Schule
ist Statsschule. Die Wis-
senschaft
ist frei von der
kirchlichen Autorität und wird


Erstes Buch. Der Statsbegriff.

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Mittelalterlicher Stat.

haben kein statliches Recht.
Sie werden verfolgt und aus-
gerottet, im günstigsten Falle
nur geduldet.

5. Das christliche Mittel-
alter betrachtet die Kirche
als das geistige und daher
höhere, den Stat als das leib-
liche
und daher niedere
Reich. Damit ist die Herr-
schaft oder doch die Vormund-
schaft des Priesterthums
über das Fürstenthum be-
gründet. Der Klerus steht
hoch über den Laien und ist
durch Immunitäten privi-
legirt.

6. Im Mittelalter leitet die
Kirche die Erziehung der
Jugend und übt ihre Autori-
tät auch über die Wissen-
schaft
aus.


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

von dem Glauben. Der
moderne Stat schützt die Be-
kenntniszfreiheit und einigt
friedlich verschiedene
Kirchen und Religions-
genossenschaften
. Er ent-
hält sich jeder Verfolgung von
Andersgläubigen oder von Un-
gläubigen.

5. Der moderne Stat be-
trachtet sich als eine Per-
son
, die zugleich aus Geist
(dem Volksgeist) und Leib,
der Verfassung, besteht. Er
fühlt sich auch der Kirche
gegenüber, die ebenfalls eine
aus Geist und Körper beste-
hende religiöse Gesammtper-
son ist, unabhängig und frei
und behauptet seine Hoheit
auch über die Kirche. Er
erkennt keine Ueberordnung
des Klerus an, verwirft die
Privilegien der Immunitäten
und breitet seine Rechtsherr-
schaft über alle Classen gleich-
mäszig aus.

6. Der moderne Stat über-
läszt nur die religiöse Er-
ziehung der Kirche. Die Schule
ist Statsschule. Die Wis-
senschaft
ist frei von der
kirchlichen Autorität und wird


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[66/0084] Erstes Buch. Der Statsbegriff. Mittelalterlicher Stat. haben kein statliches Recht. Sie werden verfolgt und aus- gerottet, im günstigsten Falle nur geduldet. 5. Das christliche Mittel- alter betrachtet die Kirche als das geistige und daher höhere, den Stat als das leib- liche und daher niedere Reich. Damit ist die Herr- schaft oder doch die Vormund- schaft des Priesterthums über das Fürstenthum be- gründet. Der Klerus steht hoch über den Laien und ist durch Immunitäten privi- legirt. 6. Im Mittelalter leitet die Kirche die Erziehung der Jugend und übt ihre Autori- tät auch über die Wissen- schaft aus. Moderner Stat. von dem Glauben. Der moderne Stat schützt die Be- kenntniszfreiheit und einigt friedlich verschiedene Kirchen und Religions- genossenschaften. Er ent- hält sich jeder Verfolgung von Andersgläubigen oder von Un- gläubigen. 5. Der moderne Stat be- trachtet sich als eine Per- son, die zugleich aus Geist (dem Volksgeist) und Leib, der Verfassung, besteht. Er fühlt sich auch der Kirche gegenüber, die ebenfalls eine aus Geist und Körper beste- hende religiöse Gesammtper- son ist, unabhängig und frei und behauptet seine Hoheit auch über die Kirche. Er erkennt keine Ueberordnung des Klerus an, verwirft die Privilegien der Immunitäten und breitet seine Rechtsherr- schaft über alle Classen gleich- mäszig aus. 6. Der moderne Stat über- läszt nur die religiöse Er- ziehung der Kirche. Die Schule ist Statsschule. Die Wis- senschaft ist frei von der kirchlichen Autorität und wird

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/84>, abgerufen am 26.11.2024.