wendig den Untergang seiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach sich, weil die Volkssubstanz und das Land fortdauern und nur in den neuen Statenverband übergehen.
Vielmehr gehen Rechte und Pflichten insoweit mit Volk und Land auf den Nachfolgestat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort- wirkenden Verhältnissen begründet erscheint.
Die Beispiele sind in neuerer Zeit nicht selten. Das erste Napoleonische Kaiserreich hatte sich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt. Aber auch die deutschen Staten hatten zur Zeit der Auflösung des alten Kaiserreichs viele geistliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang brachte die Wiener Congreßacte das europäische Statensystem zur Ruhe. Indessen hatte sie selber manche Einverleibung bestätigt und Oesterreich annexirte später die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueste Entwicklung der nationalen Politik, insbesondere Savoyen durch Frankreich, der italienischen Fürstenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutschen Staten Hannover, Kurhessen, Nassau, Schleswig-Holstein und Frankfurt durch Preußen (1867).
51.
Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das Statshaupt eines andern States auch zu seinem Statshaupt erhält (Personalunion), so hört er noch nicht auf, als eine besondere Stats- person zu gelten; und es tritt in diesem Falle keine Statenfolge ein.
Jeder der so verbundenen Staten verbleibt in seinen völkerrechtlichen Ver- hältnissen. Im Mittelalter waren die Beispiele häufiger, als in unsrer Zeit, welche die Tendenz hat, entweder die Personalunion in eine Realunion umzuwan- deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung kommen oder die bloß durch Personalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu trennen. Neuere Beispiele sind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der Herzogthümer Schleswig und Holstein mit der Krone Dänemark, des Königreichs Hannover mit der englischen Krone, des Fürstenthums Neuenburg mit der Krone Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländischen Krone.
52.
So viel wirkliche Staten vorhanden sind, so viel völkerrechtliche Per- sonen sind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten sich ein- verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen, da er nur Eine Statsperson ist. Umgekehrt haben die mehreren Staten, welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen sind, völkerrechtlich
Zweites Buch.
wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den neuen Statenverband übergehen.
Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort- wirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.
Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte Napoleoniſche Kaiſerreich hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt. Aber auch die deutſchen Staten hatten zur Zeit der Auflöſung des alten Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und Oeſterreich annexirte ſpäter die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der nationalen Politik, insbeſondere Savoyen durch Frankreich, der italieniſchen Fürſtenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutſchen Staten Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt durch Preußen (1867).
51.
Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält (Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Stats- perſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.
Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Ver- hältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit, welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwan- deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.
52.
So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Per- ſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich ein- verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen, da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten, welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0100"n="78"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch.</fw><lb/>
wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach<lb/>ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den<lb/>
neuen Statenverband übergehen.</p><lb/><p>Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land<lb/>
auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort-<lb/>
wirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.</p><lb/><p>Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte <hirendition="#g">Napoleoniſche<lb/>
Kaiſerreich</hi> hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt.<lb/>
Aber auch die <hirendition="#g">deutſchen Staten</hi> hatten zur Zeit der Auflöſung des alten<lb/>
Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang<lb/>
brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen<lb/>
hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und <hirendition="#g">Oeſterreich</hi> annexirte ſpäter<lb/>
die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der<lb/>
nationalen Politik, insbeſondere <hirendition="#g">Savoyen</hi> durch <hirendition="#g">Frankreich</hi>, der <hirendition="#g">italieniſchen</hi><lb/>
Fürſtenthümer durch das neue Königreich <hirendition="#g">Italien</hi> (1860), der deutſchen Staten<lb/><hirendition="#g">Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein</hi> und <hirendition="#g">Frankfurt</hi><lb/>
durch <hirendition="#g">Preußen</hi> (1867).</p></div><lb/><divn="5"><head>51.</head><lb/><p>Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das<lb/>
Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält<lb/>
(Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Stats-<lb/>
perſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.</p><lb/><p>Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Ver-<lb/>
hältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit,<lb/>
welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwan-<lb/>
deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung<lb/>
kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu<lb/>
trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der<lb/>
Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs<lb/>
Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone<lb/>
Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.</p></div><lb/><divn="5"><head>52.</head><lb/><p>So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Per-<lb/>ſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich ein-<lb/>
verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen,<lb/>
da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten,<lb/>
welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[78/0100]
Zweites Buch.
wendig den Untergang ſeiner völkerrechtlichen Rechte und Pflichten nach
ſich, weil die Volksſubſtanz und das Land fortdauern und nur in den
neuen Statenverband übergehen.
Vielmehr gehen Rechte und Pflichten inſoweit mit Volk und Land
auf den Nachfolgeſtat über, als ihre Fortdauer möglich und in den fort-
wirkenden Verhältniſſen begründet erſcheint.
Die Beiſpiele ſind in neuerer Zeit nicht ſelten. Das erſte Napoleoniſche
Kaiſerreich hatte ſich eine große Anzahl von Staten nach und nach einverleibt.
Aber auch die deutſchen Staten hatten zur Zeit der Auflöſung des alten
Kaiſerreichs viele geiſtliche und weltliche Territorien annexirt. Eine Zeit lang
brachte die Wiener Congreßacte das europäiſche Statenſyſtem zur Ruhe. Indeſſen
hatte ſie ſelber manche Einverleibung beſtätigt und Oeſterreich annexirte ſpäter
die Republik Krakau. Zahlreichere Annexionen kennt die neueſte Entwicklung der
nationalen Politik, insbeſondere Savoyen durch Frankreich, der italieniſchen
Fürſtenthümer durch das neue Königreich Italien (1860), der deutſchen Staten
Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt
durch Preußen (1867).
51.
Wenn ein Stat durch Wahl oder in Folge des Erbrechts das
Statshaupt eines andern States auch zu ſeinem Statshaupt erhält
(Perſonalunion), ſo hört er noch nicht auf, als eine beſondere Stats-
perſon zu gelten; und es tritt in dieſem Falle keine Statenfolge ein.
Jeder der ſo verbundenen Staten verbleibt in ſeinen völkerrechtlichen Ver-
hältniſſen. Im Mittelalter waren die Beiſpiele häufiger, als in unſrer Zeit,
welche die Tendenz hat, entweder die Perſonalunion in eine Realunion umzuwan-
deln, damit die Einheit in der Politik und die Gleichheit im Recht zur Geltung
kommen oder die bloß durch Perſonalunion verbundenen Staten wieder gänzlich zu
trennen. Neuere Beiſpiele ſind die Verbindung von Schweden und Norwegen, der
Herzogthümer Schleswig und Holſtein mit der Krone Dänemark, des Königreichs
Hannover mit der engliſchen Krone, des Fürſtenthums Neuenburg mit der Krone
Preußen, des Großherzogthums Luxemburg mit der Holländiſchen Krone.
52.
So viel wirkliche Staten vorhanden ſind, ſo viel völkerrechtliche Per-
ſonen ſind vorhanden. Der Stat, welcher mehrere andere Staten ſich ein-
verleibt hat, hat völkerrechtlich nur Eine Stimme, nicht mehrere Stimmen,
da er nur Eine Statsperſon iſt. Umgekehrt haben die mehreren Staten,
welche aus der Spaltung Eines States hervorgegangen ſind, völkerrechtlich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/100>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.