Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürstenthümer und Städte, zumal in Deutschland und in Italien sehr günstig. Der Zustand war erträglich, so lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtsein schwach, die öffent- lichen Bedürfnisse klein waren und keine äußeren Gefahren die Existenz dieser Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit ist das Alles anders geworden. Deßhalb gingen die meisten Kleinstaten bereits unter und es bildeten sich größere Volks- staten aus.
97.
Es ist kein völkerrechtliches Gesetz, daß die Erweiterung eines Stats- gebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch seinerseits eine Vergrößerung zu verlangen.
In der statlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man sich oft auf diese angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Erobe- rungssucht mit einem scheinbaren Rechtssatze zu bemänteln. So verlangte Oester- reich ein Stück der Türkei, weil Rußland sich in Polen ausdehne. Die Thei- lung Polens unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit solchen Argumenten beschönigt. Aber noch in unserm Jahrhunderte ist mit solchen Scheingründen viel- fältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutsches Land nach dem Ausdruck Fichte's "zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der Wage des europäischen Gleichgewichts". Sogar noch 1860 wurde die Annexion Savoyens durch Frankreich wenigstens nebenher mit dem großen Wachsthum des Königreichs Italien zu rechtfertigen gesucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhan- denen bedeutet, noch bedeuten darf, so ist eine derartige mathematische Anwendung jenes Princips unzulässig. Die Existenz und die Entwicklung der Völker und Sta- ten darf nicht nach so plumpen Regeln beschnitten und zugeschnitten werden.
98.
Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbestehen verschiedener Staten. Es wird gefährdet und gestört, wenn das Ueber- gewicht Eines States so unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbestehen kann. In solchen Fällen sind nicht bloß die zunächst gefährdeten schwä- cheren Staten, sondern es sind auch die übrigen ungefährdeten Staten veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzustellen und für ausreichen- den Schutz desselben zu sorgen.
Es gilt dieser Satz vorzüglich von der europäischen Statenfamilie, welche den Fortbestand einer Anzahl selbständiger Staten als Grundbedingung ihrer Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären sich die zahlreichen und am Ende glücklichen
Bluntschli, Das Völkerrecht. 7
Völkerrechtliche Perſonen.
Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürſtenthümer und Städte, zumal in Deutſchland und in Italien ſehr günſtig. Der Zuſtand war erträglich, ſo lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtſein ſchwach, die öffent- lichen Bedürfniſſe klein waren und keine äußeren Gefahren die Exiſtenz dieſer Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit iſt das Alles anders geworden. Deßhalb gingen die meiſten Kleinſtaten bereits unter und es bildeten ſich größere Volks- ſtaten aus.
97.
Es iſt kein völkerrechtliches Geſetz, daß die Erweiterung eines Stats- gebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch ſeinerſeits eine Vergrößerung zu verlangen.
In der ſtatlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man ſich oft auf dieſe angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Erobe- rungsſucht mit einem ſcheinbaren Rechtsſatze zu bemänteln. So verlangte Oeſter- reich ein Stück der Türkei, weil Rußland ſich in Polen ausdehne. Die Thei- lung Polens unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit ſolchen Argumenten beſchönigt. Aber noch in unſerm Jahrhunderte iſt mit ſolchen Scheingründen viel- fältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutſches Land nach dem Ausdruck Fichte’s „zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der Wage des europäiſchen Gleichgewichts“. Sogar noch 1860 wurde die Annexion Savoyens durch Frankreich wenigſtens nebenher mit dem großen Wachsthum des Königreichs Italien zu rechtfertigen geſucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhan- denen bedeutet, noch bedeuten darf, ſo iſt eine derartige mathematiſche Anwendung jenes Princips unzuläſſig. Die Exiſtenz und die Entwicklung der Völker und Sta- ten darf nicht nach ſo plumpen Regeln beſchnitten und zugeſchnitten werden.
98.
Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbeſtehen verſchiedener Staten. Es wird gefährdet und geſtört, wenn das Ueber- gewicht Eines States ſo unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbeſtehen kann. In ſolchen Fällen ſind nicht bloß die zunächſt gefährdeten ſchwä- cheren Staten, ſondern es ſind auch die übrigen ungefährdeten Staten veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzuſtellen und für ausreichen- den Schutz desſelben zu ſorgen.
Es gilt dieſer Satz vorzüglich von der europäiſchen Statenfamilie, welche den Fortbeſtand einer Anzahl ſelbſtändiger Staten als Grundbedingung ihrer Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären ſich die zahlreichen und am Ende glücklichen
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 7
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Völkerrechtliche Perſonen.
Das Mittelalter war der Zerbröckelung der Nationen in kleine Fürſtenthümer
und Städte, zumal in Deutſchland und in Italien ſehr günſtig. Der Zuſtand war
erträglich, ſo lange der Verkehr gering, das nationale Bewußtſein ſchwach, die öffent-
lichen Bedürfniſſe klein waren und keine äußeren Gefahren die Exiſtenz dieſer
Stätchen bedrohten. In der neueren Zeit iſt das Alles anders geworden. Deßhalb
gingen die meiſten Kleinſtaten bereits unter und es bildeten ſich größere Volks-
ſtaten aus.
97.
Es iſt kein völkerrechtliches Geſetz, daß die Erweiterung eines Stats-
gebiets einen andern vielleicht rivalen Stat berechtige, auch ſeinerſeits eine
Vergrößerung zu verlangen.
In der ſtatlichen Praxis des vorigen Jahrhunderts hat man ſich oft auf dieſe
angebliche Folgerung aus dem Princip des Gleichgewichts berufen, um die Erobe-
rungsſucht mit einem ſcheinbaren Rechtsſatze zu bemänteln. So verlangte Oeſter-
reich ein Stück der Türkei, weil Rußland ſich in Polen ausdehne. Die Thei-
lung Polens unter die drei Nachbarmächte wurde auch mit ſolchen Argumenten
beſchönigt. Aber noch in unſerm Jahrhunderte iſt mit ſolchen Scheingründen viel-
fältig Mißbrauch getrieben worden. Man hat noch im Jahr 1803 deutſches Land
nach dem Ausdruck Fichte’s „zu Zulagen gemacht zu den Hauptgewichten in der
Wage des europäiſchen Gleichgewichts“. Sogar noch 1860 wurde die Annexion
Savoyens durch Frankreich wenigſtens nebenher mit dem großen Wachsthum
des Königreichs Italien zu rechtfertigen geſucht. Da das völkerrechtliche Gleichgewicht
nicht gleich große Staten, noch ein unveränderliches Größenverhältniß der vorhan-
denen bedeutet, noch bedeuten darf, ſo iſt eine derartige mathematiſche Anwendung
jenes Princips unzuläſſig. Die Exiſtenz und die Entwicklung der Völker und Sta-
ten darf nicht nach ſo plumpen Regeln beſchnitten und zugeſchnitten werden.
98.
Das wahre Gleichgewicht bedeutet das friedliche Nebeneinanderbeſtehen
verſchiedener Staten. Es wird gefährdet und geſtört, wenn das Ueber-
gewicht Eines States ſo unverhältnißmäßig zu werden droht, daß die
Sicherheit und Freiheit der übrigen Staten daneben nicht mehr fortbeſtehen
kann. In ſolchen Fällen ſind nicht bloß die zunächſt gefährdeten ſchwä-
cheren Staten, ſondern es ſind auch die übrigen ungefährdeten Staten
veranlaßt und berechtigt, das Gleichgewicht herzuſtellen und für ausreichen-
den Schutz desſelben zu ſorgen.
Es gilt dieſer Satz vorzüglich von der europäiſchen Statenfamilie,
welche den Fortbeſtand einer Anzahl ſelbſtändiger Staten als Grundbedingung ihrer
Wohlfahrt betrachtet. Daraus erklären ſich die zahlreichen und am Ende glücklichen
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 7
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/119>, abgerufen am 27.11.2024.
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