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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.
Allianzen wider die drohende Universalmonarchie zuerst gegen Kaiser Karl V.,
dann gegen König Philipp II. von Spanien, später gegen Ludwig XIV. und
wiederum gegen Kaiser Napoleon I., zuletzt wider die Russische Oberherrschaft in
Südosteuropa. Aber nicht ebenso scheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem
die Vereinigten Staten offenbar schon zur leitenden Hauptmacht für den gan-
zen Welttheil geworden sind. Wenn aber Amerika bestimmt ist, in die Vereinigten
Staten aufgenommen zu werden, so bedarf es dieses Satzes nicht, wenn es aber
auch für Amerika wie für Europa nöthig erscheinen sollte, eine Statengenossen-
schaft von einander unabhängiger Staten
zu bilden, so wird der Satz
auch in das Amerikanische Völkerrecht aufgenommen werden müssen.

99.

Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes gestützten
Universalherrschaft über die andern Völker ist eine Gefährdung des Gleich-
gewichts und rechtfertigt den gemeinsamen Widerstand der übrigen Staten.

Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieser völkerrechtswidrigen Bedrohung selb-
ständiger und nicht zusammengehöriger Staten darf nicht verwechselt werden die Be-
drohung unhaltbarer Particularstaten durch einen nationalen Groß-
stat
. Denn es kann die Einverleibung jener durch diesen vielleicht eine nothwendige
Bedingung sein für die Sicherheit der nationalen Existenz und Gesammtwohlfahrt,
oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Ge-
schichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutschland im Jahr 1866
machen das klar. Das Gleichgewicht der italienischen und der deutschen Particular-
staten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte
leicht darauf verzichtet werden, wenn man statt dessen die unschätzbare Errungen-
schaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt.

100.

Auch eine theilweise Uebermacht eines States kann die Sicherheit
und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden
und rechtfertigt den gemeinsamen Widerstand der übrigen Staten, um die-
selbe zu beschränken. Das gilt insbesondere von einer übermächtigen
Seeherrschaft eines States.

Ein Beispiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der
englischen Universalherrschaft über die Meere.

2. Heilige Allianz.
101.

Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der

Zweites Buch.
Allianzen wider die drohende Univerſalmonarchie zuerſt gegen Kaiſer Karl V.,
dann gegen König Philipp II. von Spanien, ſpäter gegen Ludwig XIV. und
wiederum gegen Kaiſer Napoleon I., zuletzt wider die Ruſſiſche Oberherrſchaft in
Südoſteuropa. Aber nicht ebenſo ſcheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem
die Vereinigten Staten offenbar ſchon zur leitenden Hauptmacht für den gan-
zen Welttheil geworden ſind. Wenn aber Amerika beſtimmt iſt, in die Vereinigten
Staten aufgenommen zu werden, ſo bedarf es dieſes Satzes nicht, wenn es aber
auch für Amerika wie für Europa nöthig erſcheinen ſollte, eine Statengenoſſen-
ſchaft von einander unabhängiger Staten
zu bilden, ſo wird der Satz
auch in das Amerikaniſche Völkerrecht aufgenommen werden müſſen.

99.

Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes geſtützten
Univerſalherrſchaft über die andern Völker iſt eine Gefährdung des Gleich-
gewichts und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten.

Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieſer völkerrechtswidrigen Bedrohung ſelb-
ſtändiger und nicht zuſammengehöriger Staten darf nicht verwechſelt werden die Be-
drohung unhaltbarer Particularſtaten durch einen nationalen Groß-
ſtat
. Denn es kann die Einverleibung jener durch dieſen vielleicht eine nothwendige
Bedingung ſein für die Sicherheit der nationalen Exiſtenz und Geſammtwohlfahrt,
oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Ge-
ſchichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutſchland im Jahr 1866
machen das klar. Das Gleichgewicht der italieniſchen und der deutſchen Particular-
ſtaten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte
leicht darauf verzichtet werden, wenn man ſtatt deſſen die unſchätzbare Errungen-
ſchaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt.

100.

Auch eine theilweiſe Uebermacht eines States kann die Sicherheit
und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden
und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten, um die-
ſelbe zu beſchränken. Das gilt insbeſondere von einer übermächtigen
Seeherrſchaft eines States.

Ein Beiſpiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der
engliſchen Univerſalherrſchaft über die Meere.

2. Heilige Allianz.
101.

Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der

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[98/0120] Zweites Buch. Allianzen wider die drohende Univerſalmonarchie zuerſt gegen Kaiſer Karl V., dann gegen König Philipp II. von Spanien, ſpäter gegen Ludwig XIV. und wiederum gegen Kaiſer Napoleon I., zuletzt wider die Ruſſiſche Oberherrſchaft in Südoſteuropa. Aber nicht ebenſo ſcheint der Satz auf Amerika anwendbar, indem die Vereinigten Staten offenbar ſchon zur leitenden Hauptmacht für den gan- zen Welttheil geworden ſind. Wenn aber Amerika beſtimmt iſt, in die Vereinigten Staten aufgenommen zu werden, ſo bedarf es dieſes Satzes nicht, wenn es aber auch für Amerika wie für Europa nöthig erſcheinen ſollte, eine Statengenoſſen- ſchaft von einander unabhängiger Staten zu bilden, ſo wird der Satz auch in das Amerikaniſche Völkerrecht aufgenommen werden müſſen. 99. Das Streben nach einer auf die Uebermacht Eines Volkes geſtützten Univerſalherrſchaft über die andern Völker iſt eine Gefährdung des Gleich- gewichts und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten. Vgl. die vorige Anmerkung. Mit dieſer völkerrechtswidrigen Bedrohung ſelb- ſtändiger und nicht zuſammengehöriger Staten darf nicht verwechſelt werden die Be- drohung unhaltbarer Particularſtaten durch einen nationalen Groß- ſtat. Denn es kann die Einverleibung jener durch dieſen vielleicht eine nothwendige Bedingung ſein für die Sicherheit der nationalen Exiſtenz und Geſammtwohlfahrt, oder eine unvermeidliche Folge der nationalen Entwicklung eines Volks. Die Ge- ſchichte Italiens im Jahr 1860, und die von Deutſchland im Jahr 1866 machen das klar. Das Gleichgewicht der italieniſchen und der deutſchen Particular- ſtaten war überhaupt kein Gut von hohem und von dauerndem Werth und es konnte leicht darauf verzichtet werden, wenn man ſtatt deſſen die unſchätzbare Errungen- ſchaft eines nationalen States und eine würdigere Stellung in der Welt erhielt. 100. Auch eine theilweiſe Uebermacht eines States kann die Sicherheit und die Freiheit der andern Staten und damit das Gleichgewicht gefährden und rechtfertigt den gemeinſamen Widerſtand der übrigen Staten, um die- ſelbe zu beſchränken. Das gilt insbeſondere von einer übermächtigen Seeherrſchaft eines States. Ein Beiſpiel geben die Verträge der neutralen Staten zur Bekämpfung der engliſchen Univerſalherrſchaft über die Meere. 2. Heilige Allianz. 101. Die heilige Allianz vom Jahr 1815, welche auf das Princip der

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/120>, abgerufen am 27.11.2024.