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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Viertes Buch.
civilisirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der
freien Schiffahrt und der besondern Nationalität nicht gewahrt. Das Interesse der all-
gemeinen Verkehrssicherheit rechtfertigt die Beschränkung der allgemeinen Schiffahrts-
freiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen sich
nicht auf diese berufen.

In den meisten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnsüchtige Ab-
sicht
der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die
meisten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft diesen Charakter. Aber wenn
ein Schiff in der Absicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation
zu zerstören und ihre Güter zu versenken oder an dem Ufer Verheerungen anzu-
richten, die Häuser in Brand zu stecken, und das Alles nicht aus Gewinnsucht, son-
dern aus Haß oder Rache, so wird auch ein solches Schiff als Piratenschiff zu
betrachten sein, weil die Gemeingefährlichkeit dieselbe und das Verbrecherische solcher
Unternehmungen ebenso offenbar ist. Der Richter Jenkins erklärte folgende
3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltsamer Angriff, b) Weg-
nahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. Phillimore I.
§ 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Men-
schenraub. Daß das dritte nothwendig sei, darf billig verneint werden, denn die
Seelenstimmung des Verletzten ist für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch
wenn die Angegriffenen sich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern sieg-
reich durchfechten, sind diese dennoch als Seeräuber zu bestrafen.

344.

Wenn ein ernster Verdacht besteht, daß ein Schiff ein Räuberschiff
sei, so ist jedes Kriegsschiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten,
dasselbe anzuhalten und zu untersuchen, ob jener Verdacht begründet sei.

Wenn einige Schriftsteller auch in diesem Falle den Kriegsschiffen das Recht
absprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenschiff anzuhalten, so ver-
kennen sie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu
werden. Würde die sonstige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde
Schiffe eine Macht üben dürfe, absolut festgehalten, so wäre damit die Verfolgung
der Seeräuber in den meisten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird
anerkannt im Interesse der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In
demselben Interesse wird derselben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß
alle Staten gleichmäßig berechtigt sind, die Raubschiffe als Feinde zu verfolgen.
Zu diesem Behuf müssen sie dieselben auch ihrerseits angreifen können, wenn sie sich
zeigen.

345.

Ergibt sich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet sei, so

Viertes Buch.
civiliſirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der
freien Schiffahrt und der beſondern Nationalität nicht gewahrt. Das Intereſſe der all-
gemeinen Verkehrsſicherheit rechtfertigt die Beſchränkung der allgemeinen Schiffahrts-
freiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen ſich
nicht auf dieſe berufen.

In den meiſten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnſüchtige Ab-
ſicht
der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die
meiſten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft dieſen Charakter. Aber wenn
ein Schiff in der Abſicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation
zu zerſtören und ihre Güter zu verſenken oder an dem Ufer Verheerungen anzu-
richten, die Häuſer in Brand zu ſtecken, und das Alles nicht aus Gewinnſucht, ſon-
dern aus Haß oder Rache, ſo wird auch ein ſolches Schiff als Piratenſchiff zu
betrachten ſein, weil die Gemeingefährlichkeit dieſelbe und das Verbrecheriſche ſolcher
Unternehmungen ebenſo offenbar iſt. Der Richter Jenkins erklärte folgende
3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltſamer Angriff, b) Weg-
nahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. Phillimore I.
§ 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Men-
ſchenraub. Daß das dritte nothwendig ſei, darf billig verneint werden, denn die
Seelenſtimmung des Verletzten iſt für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch
wenn die Angegriffenen ſich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern ſieg-
reich durchfechten, ſind dieſe dennoch als Seeräuber zu beſtrafen.

344.

Wenn ein ernſter Verdacht beſteht, daß ein Schiff ein Räuberſchiff
ſei, ſo iſt jedes Kriegsſchiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten,
dasſelbe anzuhalten und zu unterſuchen, ob jener Verdacht begründet ſei.

Wenn einige Schriftſteller auch in dieſem Falle den Kriegsſchiffen das Recht
abſprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenſchiff anzuhalten, ſo ver-
kennen ſie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu
werden. Würde die ſonſtige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde
Schiffe eine Macht üben dürfe, abſolut feſtgehalten, ſo wäre damit die Verfolgung
der Seeräuber in den meiſten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird
anerkannt im Intereſſe der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In
demſelben Intereſſe wird derſelben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß
alle Staten gleichmäßig berechtigt ſind, die Raubſchiffe als Feinde zu verfolgen.
Zu dieſem Behuf müſſen ſie dieſelben auch ihrerſeits angreifen können, wenn ſie ſich
zeigen.

345.

Ergibt ſich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet ſei, ſo

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[198/0220] Viertes Buch. civiliſirten Staten betrachtet. Deßhalb wird auch gegen Seeräuber das Recht der freien Schiffahrt und der beſondern Nationalität nicht gewahrt. Das Intereſſe der all- gemeinen Verkehrsſicherheit rechtfertigt die Beſchränkung der allgemeinen Schiffahrts- freiheit. Die Seeräuber, welche jene fortwährend als Feinde bedrohen, dürfen ſich nicht auf dieſe berufen. In den meiſten Erklärungen des Begriffs wird die gewinnſüchtige Ab- ſicht der Seeräuber, der animus furandi, als Hauptmerkmal hervorgehoben. Die meiſten Fälle des Seeraubes haben auch unzweifelhaft dieſen Charakter. Aber wenn ein Schiff in der Abſicht ausfährt, fremde Schiffe, vielleicht einer verhaßten Nation zu zerſtören und ihre Güter zu verſenken oder an dem Ufer Verheerungen anzu- richten, die Häuſer in Brand zu ſtecken, und das Alles nicht aus Gewinnſucht, ſon- dern aus Haß oder Rache, ſo wird auch ein ſolches Schiff als Piratenſchiff zu betrachten ſein, weil die Gemeingefährlichkeit dieſelbe und das Verbrecheriſche ſolcher Unternehmungen ebenſo offenbar iſt. Der Richter Jenkins erklärte folgende 3 Merkmale für nöthig zum Begriff des Seeraubs: a) gewaltſamer Angriff, b) Weg- nahme fremden Guts, c) Erregung von Furcht des Veraubten. Phillimore I. § 335. Dem zweiten Merkmal fügen Andere mit Recht zu oder Mord oder Men- ſchenraub. Daß das dritte nothwendig ſei, darf billig verneint werden, denn die Seelenſtimmung des Verletzten iſt für das Verbrechen ohne Bedeutung. Auch wenn die Angegriffenen ſich nicht fürchten und den Kampf mit den Seeräubern ſieg- reich durchfechten, ſind dieſe dennoch als Seeräuber zu beſtrafen. 344. Wenn ein ernſter Verdacht beſteht, daß ein Schiff ein Räuberſchiff ſei, ſo iſt jedes Kriegsſchiff eines jeden Stats als ermächtigt zu betrachten, dasſelbe anzuhalten und zu unterſuchen, ob jener Verdacht begründet ſei. Wenn einige Schriftſteller auch in dieſem Falle den Kriegsſchiffen das Recht abſprechen, Seepolicei zu üben und ein verdächtiges Piratenſchiff anzuhalten, ſo ver- kennen ſie das dringende Bedürfniß aller Nationen, von der Seeräuberei befreit zu werden. Würde die ſonſtige Regel, daß kein Stat auf offener See über fremde Schiffe eine Macht üben dürfe, abſolut feſtgehalten, ſo wäre damit die Verfolgung der Seeräuber in den meiſten Fällen unmöglich gemacht. Jene Regel aber wird anerkannt im Intereſſe der Sicherheit und Freiheit der friedlichen Seefahrer. In demſelben Intereſſe wird derſelben die ergänzende Ausnahme hinzugefügt, daß alle Staten gleichmäßig berechtigt ſind, die Raubſchiffe als Feinde zu verfolgen. Zu dieſem Behuf müſſen ſie dieſelben auch ihrerſeits angreifen können, wenn ſie ſich zeigen. 345. Ergibt ſich bei der Prüfung, daß der Verdacht unbegründet ſei, ſo

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/220>, abgerufen am 26.11.2024.