Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunsten eines andern States -- oder ausnahmsweise auch zu Gunsten einer unter völkerrecht- lichem Schutze stehenden Körperschaft oder Familie -- vertragsmäßig und dauernd beschränkt wird, so wird diese Beschränkung Statsdienstbarkeit genannt.
Wir nennen diejenigen Beschränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem völkerrechtlichen Zusammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der Verhältnisse mit Rechtsnothwendigkeit sich ergeben, wie die Pflicht zum Gesanten- verkehr und Fremdenschutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen Strömen und am Küstensaum u. dgl. nicht Dienstbarkeiten, weil sie zu der regel- mäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit selbst als ein da- durch nothwendig beschränktes Recht erscheint. Die eigentlichen Statsdienst- barkeiten verstehn sich nicht von selber, sondern bedürfen einer besondern Begründung im einzelnen Fall. Sie sind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung spricht.
Die Analogie der privatrechtlichen Grundsätze über die sogenannten Prädial- servituten darf nur mit Vorsicht angewendet werden, weil es sich hier nicht um Verhältnisse handelt, welche der Wilkür von Privatpersonen anheimfallen, sondern um Zustände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt ist. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten ist doch ein ganz anderes Ding als das Grundeigenthum und daher eine Beschränkung derselben von ganz anderer Wirkung als eine Privatservitut.
354.
Der Begründung einer Statsdienstbarkeit durch Vertrag steht die Berufung auf unvordenklichen Besitz gleich, insofern aus der fortdauernden Ausübung solcher Beschränkung ohne Widerspruch des beschränkten States auf die Anerkennung der Dienstbarkeit durch diesen geschlossen werden kann.
Es ist unmöglich, die herkömmlichen Statsdienstbarkeiten zu ignoriren, aber man darf doch nicht leichthin derartige Beschränkungen als ursprünglich gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines strengen Beweises dafür, daß nicht etwa der beschränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach- barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit sich die thatsächliche Beschränkung habe gefallen lassen, sondern dieselbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.
Viertes Buch.
4. Von den Statsdienſtbarkeiten.
353.
Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht- lichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit genannt.
Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten- verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel- mäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da- durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt- barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung ſpricht.
Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial- ſervituten darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen, ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung als eine Privatſervitut.
354.
Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.
Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren, aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach- barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.
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Viertes Buch.
4. Von den Statsdienſtbarkeiten.
353.
Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern
States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht-
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dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit
genannt.
Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem
völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der
Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten-
verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen
Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel-
mäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da-
durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt-
barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung
im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung
ſpricht.
Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial-
ſervituten darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um
Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen,
ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die
Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das
Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung
als eine Privatſervitut.
354.
Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die
Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden
Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States
auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.
Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren,
aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich
gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß
nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach-
barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen
laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/226>, abgerufen am 26.11.2024.
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