Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Kriegsrecht.
517.

Als rechtmäßige Ursache zum Krieg ist aber nicht bloß die Verletzung
geschichtlich anerkannter und erworbener Rechte, sondern ebenso die unge-
rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der
fortschreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.

Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugestaltung des Stats muß ebenso aner-
kannt und durchgeführt werden, wie der Bestand des geschichtlich gewordenen Rechts, so
lange es lebensfähig und zeitgemäß ist, geschützt werden soll. Wer die Verfechtung
des werdenden Rechts bestreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und
hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten
muß, wenn das Recht seine Bestimmung erfüllen soll. Es ist eine eher kindische
als juristische Ansicht, daß ein Volk berechtigt sei, für das dynastische Erbrecht eines
Fürsten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt sei, für seine nationale Einigung
zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde
vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geschichte
bisher verhindert und gehemmt worden ist. Dennoch hat diese wunderliche Meinung
im Jahr 1866 in Deutschland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens ist das
Recht eines Volkes, sich die statliche Gestalt zu geben, deren es bedarf, um seine
natürliche Anlage zu entwickeln, seine Bestimmung zu erfüllen, für seine Sicherheit
zu sorgen und seine Ehre zu wahren, und daher sein Recht, dafür nöthigenfalls zu
den Waffen zu greifen, ein sehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht
als irgend ein urkundliches Dynastenrecht.

518.

Das bloße Statsinteresse für sich allein rechtfertigt den Krieg nicht.

Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, sind nur Rechts-
gründe
, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denselben zu
rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß
politischen
Motiven unternommen worden sind, um das Ansehen einer Macht zu
vergrößern, eine politische Richtung zu hindern oder zu unterstützen, günstige Ver-
bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik ist der Krieg
durchaus verwerflich.

Völlig verschieden von dieser Frage ist die andere, ob der Krieg, wenn er als
Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politisches Mittel benützt
werden dürfe. Das ist meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be-
nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da ist, auch nützliche Zwecke zu erreichen,
schafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker
vorwärts.

19*
Das Kriegsrecht.
517.

Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung
geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die unge-
rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der
fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.

Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner-
kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo
lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung
des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und
hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten
muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche
als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines
Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung
zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde
vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte
bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung
im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das
Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine
natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit
zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu
den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht
als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.

518.

Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht.

Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechts-
gründe
, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu
rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß
politiſchen
Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu
vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Ver-
bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg
durchaus verwerflich.

Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als
Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt
werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be-
nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen,
ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker
vorwärts.

19*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0313" n="291"/>
            <fw place="top" type="header">Das Kriegsrecht.</fw><lb/>
            <div n="4">
              <head>517.</head><lb/>
              <p>Als rechtmäßige Ur&#x017F;ache zum Krieg i&#x017F;t aber nicht bloß die Verletzung<lb/>
ge&#x017F;chichtlich anerkannter und erworbener Rechte, &#x017F;ondern eben&#x017F;o die unge-<lb/>
rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der<lb/>
fort&#x017F;chreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.</p><lb/>
              <p>Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neuge&#x017F;taltung des Stats muß eben&#x017F;o aner-<lb/>
kannt und durchgeführt werden, wie der Be&#x017F;tand des ge&#x017F;chichtlich gewordenen Rechts, &#x017F;o<lb/>
lange es lebensfähig und zeitgemäß i&#x017F;t, ge&#x017F;chützt werden &#x017F;oll. Wer die Verfechtung<lb/>
des <hi rendition="#g">werdenden</hi> Rechts be&#x017F;treitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und<lb/>
hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten<lb/>
muß, wenn das Recht &#x017F;eine Be&#x017F;timmung erfüllen &#x017F;oll. Es i&#x017F;t eine eher kindi&#x017F;che<lb/>
als juri&#x017F;ti&#x017F;che An&#x017F;icht, daß ein Volk berechtigt &#x017F;ei, für das dyna&#x017F;ti&#x017F;che Erbrecht eines<lb/>
Für&#x017F;ten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt &#x017F;ei, für &#x017F;eine <hi rendition="#g">nationale Einigung</hi><lb/>
zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde<lb/>
vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Ge&#x017F;chichte<lb/>
bisher verhindert und gehemmt worden i&#x017F;t. Dennoch hat die&#x017F;e wunderliche Meinung<lb/>
im Jahr 1866 in Deut&#x017F;chland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens i&#x017F;t das<lb/>
Recht eines Volkes, &#x017F;ich die &#x017F;tatliche Ge&#x017F;talt zu geben, deren es bedarf, um &#x017F;eine<lb/>
natürliche Anlage zu entwickeln, &#x017F;eine Be&#x017F;timmung zu erfüllen, für &#x017F;eine Sicherheit<lb/>
zu &#x017F;orgen und &#x017F;eine Ehre zu wahren, und daher &#x017F;ein Recht, dafür nöthigenfalls zu<lb/>
den Waffen zu greifen, ein &#x017F;ehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht<lb/>
als irgend ein urkundliches Dyna&#x017F;tenrecht.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>518.</head><lb/>
              <p>Das bloße Statsintere&#x017F;&#x017F;e für &#x017F;ich allein rechtfertigt den Krieg nicht.</p><lb/>
              <p>Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, &#x017F;ind nur <hi rendition="#g">Rechts-<lb/>
gründe</hi>, nicht aber bloße <hi rendition="#g">Zweckmäßigkeitsgründe</hi> geeignet, den&#x017F;elben zu<lb/>
rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus <hi rendition="#g">bloß<lb/>
politi&#x017F;chen</hi> Motiven unternommen worden &#x017F;ind, um das An&#x017F;ehen einer Macht zu<lb/>
vergrößern, eine politi&#x017F;che Richtung zu hindern oder zu unter&#x017F;tützen, gün&#x017F;tige Ver-<lb/>
bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik i&#x017F;t der Krieg<lb/>
durchaus verwerflich.</p><lb/>
              <p>Völlig ver&#x017F;chieden von die&#x017F;er Frage i&#x017F;t die andere, ob der Krieg, wenn er als<lb/>
Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als <hi rendition="#g">politi&#x017F;ches Mittel benützt</hi><lb/>
werden dürfe. Das i&#x017F;t meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be-<lb/>
nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da i&#x017F;t, auch nützliche Zwecke zu erreichen,<lb/>
&#x017F;chafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker<lb/>
vorwärts.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">19*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0313] Das Kriegsrecht. 517. Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die unge- rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten. Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner- kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht. 518. Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht. Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechts- gründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß politiſchen Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Ver- bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg durchaus verwerflich. Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be- nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen, ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker vorwärts. 19*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/313
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/313>, abgerufen am 24.11.2024.