Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Achtes Buch.
gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilweise in dem be-
setzten Gebiet fortdauern lassen, wie in Friedenszeiten und wie vor der
Besitznahme.

Aber diese Verwaltung muß hinwieder sich den Anordnungen unter-
werfen, welche die militärische Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer
wirksamen Kriegführung fordern.

Amerik. Kriegsartikel 3. Die Interessen der allgemeinen
Sicherheit
und Wohlfahrt, für welche die statlichen Policei- und Verwaltungs-
behörden und die Gerichte zu sorgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedür-
fen einer Befriedigung. Es ist daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung
und sogar die Policeimannschaft (Gensdarmerie) bei dem Vormarschiren des feind-
lichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu besetzen im Begriffe ist, weggezogen wer-
den, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oesterreich in Böhmen geschehen
ist. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja
die Verwaltung eingeführt ist. Diesen gegenüber begeht die Landesregierung, welche
alle Anstalten zum Schutz der öffentlichen Ordnung beseitigt, ein schweres Unrecht.
Allerdings ist aus politischen Motiven ein Unterschied zu machen zwischen den Be-
amten und Angestellten, welche wesentlich verwaltende und denen, welche vor-
nehmlich politische Functionen hatten. Die erstern haben keinen Grund, zu
flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und ihre Verwaltung
im Orts- und Landesinteresse fortzuüben
, wenn die feindliche Kriegs-
gewalt sie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindes-
gewalt weichen, welcher zu dienen sie nicht verpflichtet sind, und welche ihnen schwer-
lich die fortgesetzte politische Leitung anvertrauen würde. Diese Unterscheidung wirkt
aber eher politisch als rechtlich und ist ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Ver-
waltungsbeamte, welche politisch vorzüglich compromittirt sind, mögen zureichende
Motive haben, die besetzte Gegend und ihr Amt zu verlassen, wenn der Feind ein-
zieht, und umgekehrt auch politische Beamte nach Umständen es zweckmäßig finden,
zurück zu bleiben und die weiteren Entschlüsse der besetzenden Kriegsgewalt abzu-
warten. Nur die Rechtsregel steht fest: Bis zur Besetzung haben die Beamten den
verfassungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehorsam zu leisten.
Nach vollzogener Besetzung dagegen hört die Wirksamkeit der frühern Autorität auch
für die Beamten auf und müssen sie sich der Autorität der besetzenden Kriegsgewalt
so weit fügen, als dieselbe völkerrechtlich begründet ist.

Am wenigsten werden von der Aenderung die Gemeinde- und überhaupt
alle Localämter betroffen. Da dieselben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung
haben, so lassen sie sich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit diesem unter
die Autorität des Feindes.

542.

Die Träger der militärischen Autorität sind nicht entbunden von

Achtes Buch.
gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilweiſe in dem be-
ſetzten Gebiet fortdauern laſſen, wie in Friedenszeiten und wie vor der
Beſitznahme.

Aber dieſe Verwaltung muß hinwieder ſich den Anordnungen unter-
werfen, welche die militäriſche Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer
wirkſamen Kriegführung fordern.

Amerik. Kriegsartikel 3. Die Intereſſen der allgemeinen
Sicherheit
und Wohlfahrt, für welche die ſtatlichen Policei- und Verwaltungs-
behörden und die Gerichte zu ſorgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedür-
fen einer Befriedigung. Es iſt daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung
und ſogar die Policeimannſchaft (Gensdarmerie) bei dem Vormarſchiren des feind-
lichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu beſetzen im Begriffe iſt, weggezogen wer-
den, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oeſterreich in Böhmen geſchehen
iſt. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja
die Verwaltung eingeführt iſt. Dieſen gegenüber begeht die Landesregierung, welche
alle Anſtalten zum Schutz der öffentlichen Ordnung beſeitigt, ein ſchweres Unrecht.
Allerdings iſt aus politiſchen Motiven ein Unterſchied zu machen zwiſchen den Be-
amten und Angeſtellten, welche weſentlich verwaltende und denen, welche vor-
nehmlich politiſche Functionen hatten. Die erſtern haben keinen Grund, zu
flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und ihre Verwaltung
im Orts- und Landesintereſſe fortzuüben
, wenn die feindliche Kriegs-
gewalt ſie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindes-
gewalt weichen, welcher zu dienen ſie nicht verpflichtet ſind, und welche ihnen ſchwer-
lich die fortgeſetzte politiſche Leitung anvertrauen würde. Dieſe Unterſcheidung wirkt
aber eher politiſch als rechtlich und iſt ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Ver-
waltungsbeamte, welche politiſch vorzüglich compromittirt ſind, mögen zureichende
Motive haben, die beſetzte Gegend und ihr Amt zu verlaſſen, wenn der Feind ein-
zieht, und umgekehrt auch politiſche Beamte nach Umſtänden es zweckmäßig finden,
zurück zu bleiben und die weiteren Entſchlüſſe der beſetzenden Kriegsgewalt abzu-
warten. Nur die Rechtsregel ſteht feſt: Bis zur Beſetzung haben die Beamten den
verfaſſungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehorſam zu leiſten.
Nach vollzogener Beſetzung dagegen hört die Wirkſamkeit der frühern Autorität auch
für die Beamten auf und müſſen ſie ſich der Autorität der beſetzenden Kriegsgewalt
ſo weit fügen, als dieſelbe völkerrechtlich begründet iſt.

Am wenigſten werden von der Aenderung die Gemeinde- und überhaupt
alle Localämter betroffen. Da dieſelben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung
haben, ſo laſſen ſie ſich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit dieſem unter
die Autorität des Feindes.

542.

Die Träger der militäriſchen Autorität ſind nicht entbunden von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0326" n="304"/><fw place="top" type="header">Achtes Buch.</fw><lb/>
gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilwei&#x017F;e in dem be-<lb/>
&#x017F;etzten Gebiet fortdauern la&#x017F;&#x017F;en, wie in Friedenszeiten und wie vor der<lb/>
Be&#x017F;itznahme.</p><lb/>
              <p>Aber die&#x017F;e Verwaltung muß hinwieder &#x017F;ich den Anordnungen unter-<lb/>
werfen, welche die militäri&#x017F;che Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer<lb/>
wirk&#x017F;amen Kriegführung fordern.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Amerik. Kriegsartikel</hi> 3. Die <hi rendition="#g">Intere&#x017F;&#x017F;en</hi> der <hi rendition="#g">allgemeinen<lb/>
Sicherheit</hi> und <hi rendition="#g">Wohlfahrt</hi>, für welche die &#x017F;tatlichen Policei- und Verwaltungs-<lb/>
behörden und die Gerichte zu &#x017F;orgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedür-<lb/>
fen einer Befriedigung. Es i&#x017F;t daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung<lb/>
und &#x017F;ogar die Policeimann&#x017F;chaft (Gensdarmerie) bei dem Vormar&#x017F;chiren des feind-<lb/>
lichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu be&#x017F;etzen im Begriffe i&#x017F;t, weggezogen wer-<lb/>
den, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oe&#x017F;terreich in Böhmen ge&#x017F;chehen<lb/>
i&#x017F;t. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja<lb/>
die Verwaltung eingeführt i&#x017F;t. Die&#x017F;en gegenüber begeht die Landesregierung, welche<lb/>
alle An&#x017F;talten zum Schutz der öffentlichen Ordnung be&#x017F;eitigt, ein &#x017F;chweres Unrecht.<lb/>
Allerdings i&#x017F;t aus politi&#x017F;chen Motiven ein Unter&#x017F;chied zu machen zwi&#x017F;chen den Be-<lb/>
amten und Ange&#x017F;tellten, welche we&#x017F;entlich <hi rendition="#g">verwaltende</hi> und denen, welche vor-<lb/>
nehmlich <hi rendition="#g">politi&#x017F;che</hi> Functionen hatten. Die er&#x017F;tern haben keinen Grund, zu<lb/>
flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und <hi rendition="#g">ihre Verwaltung<lb/>
im Orts- und Landesintere&#x017F;&#x017F;e fortzuüben</hi>, wenn die feindliche Kriegs-<lb/>
gewalt &#x017F;ie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindes-<lb/>
gewalt weichen, welcher zu dienen &#x017F;ie nicht verpflichtet &#x017F;ind, und welche ihnen &#x017F;chwer-<lb/>
lich die fortge&#x017F;etzte politi&#x017F;che Leitung anvertrauen würde. Die&#x017F;e Unter&#x017F;cheidung wirkt<lb/>
aber eher politi&#x017F;ch als rechtlich und i&#x017F;t ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Ver-<lb/>
waltungsbeamte, welche politi&#x017F;ch vorzüglich compromittirt &#x017F;ind, mögen zureichende<lb/>
Motive haben, die be&#x017F;etzte Gegend und ihr Amt zu verla&#x017F;&#x017F;en, wenn der Feind ein-<lb/>
zieht, und umgekehrt auch politi&#x017F;che Beamte nach Um&#x017F;tänden es zweckmäßig finden,<lb/>
zurück zu bleiben und die weiteren Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e der be&#x017F;etzenden Kriegsgewalt abzu-<lb/>
warten. Nur die Rechtsregel &#x017F;teht fe&#x017F;t: <hi rendition="#g">Bis</hi> zur Be&#x017F;etzung haben die Beamten den<lb/>
verfa&#x017F;&#x017F;ungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehor&#x017F;am zu lei&#x017F;ten.<lb/><hi rendition="#g">Nach</hi> vollzogener Be&#x017F;etzung dagegen hört die Wirk&#x017F;amkeit der frühern Autorität auch<lb/>
für die Beamten auf und mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich der Autorität der be&#x017F;etzenden Kriegsgewalt<lb/>
&#x017F;o weit fügen, als die&#x017F;elbe völkerrechtlich begründet i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Am wenig&#x017F;ten werden von der Aenderung die <hi rendition="#g">Gemeinde-</hi> und überhaupt<lb/>
alle <hi rendition="#g">Localämter</hi> betroffen. Da die&#x017F;elben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung<lb/>
haben, &#x017F;o la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit die&#x017F;em unter<lb/>
die Autorität des Feindes.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>542.</head><lb/>
              <p>Die Träger der militäri&#x017F;chen Autorität &#x017F;ind nicht entbunden von<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[304/0326] Achtes Buch. gerliche Verwaltung und Rechtspflege ganz oder theilweiſe in dem be- ſetzten Gebiet fortdauern laſſen, wie in Friedenszeiten und wie vor der Beſitznahme. Aber dieſe Verwaltung muß hinwieder ſich den Anordnungen unter- werfen, welche die militäriſche Nothwendigkeit und das Bedürfniß einer wirkſamen Kriegführung fordern. Amerik. Kriegsartikel 3. Die Intereſſen der allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt, für welche die ſtatlichen Policei- und Verwaltungs- behörden und die Gerichte zu ſorgen haben, dauern auch im Kriege fort und bedür- fen einer Befriedigung. Es iſt daher durchaus verkehrt, wenn die ganze Beamtung und ſogar die Policeimannſchaft (Gensdarmerie) bei dem Vormarſchiren des feind- lichen Heeres aus dem Gebiete, das es zu beſetzen im Begriffe iſt, weggezogen wer- den, wie es noch 1866 in dem letzten Kriege von Oeſterreich in Böhmen geſchehen iſt. Der Feind leidet dabei viel weniger, als die eigenen Landsleute, für welche ja die Verwaltung eingeführt iſt. Dieſen gegenüber begeht die Landesregierung, welche alle Anſtalten zum Schutz der öffentlichen Ordnung beſeitigt, ein ſchweres Unrecht. Allerdings iſt aus politiſchen Motiven ein Unterſchied zu machen zwiſchen den Be- amten und Angeſtellten, welche weſentlich verwaltende und denen, welche vor- nehmlich politiſche Functionen hatten. Die erſtern haben keinen Grund, zu flüchten, aber viele Gründe, in ihrem Amte auszuharren und ihre Verwaltung im Orts- und Landesintereſſe fortzuüben, wenn die feindliche Kriegs- gewalt ſie nicht daran behindert. Die letztern dagegen mögen eher vor der Feindes- gewalt weichen, welcher zu dienen ſie nicht verpflichtet ſind, und welche ihnen ſchwer- lich die fortgeſetzte politiſche Leitung anvertrauen würde. Dieſe Unterſcheidung wirkt aber eher politiſch als rechtlich und iſt ebendeßhalb eine fließende. Einzelne Ver- waltungsbeamte, welche politiſch vorzüglich compromittirt ſind, mögen zureichende Motive haben, die beſetzte Gegend und ihr Amt zu verlaſſen, wenn der Feind ein- zieht, und umgekehrt auch politiſche Beamte nach Umſtänden es zweckmäßig finden, zurück zu bleiben und die weiteren Entſchlüſſe der beſetzenden Kriegsgewalt abzu- warten. Nur die Rechtsregel ſteht feſt: Bis zur Beſetzung haben die Beamten den verfaſſungsmäßigen Anordnungen und Befehlen ihrer Regierung Gehorſam zu leiſten. Nach vollzogener Beſetzung dagegen hört die Wirkſamkeit der frühern Autorität auch für die Beamten auf und müſſen ſie ſich der Autorität der beſetzenden Kriegsgewalt ſo weit fügen, als dieſelbe völkerrechtlich begründet iſt. Am wenigſten werden von der Aenderung die Gemeinde- und überhaupt alle Localämter betroffen. Da dieſelben eine rein-örtliche Aufgabe und Beziehung haben, ſo laſſen ſie ſich nicht von dem Orte trennen und gerathen mit dieſem unter die Autorität des Feindes. 542. Die Träger der militäriſchen Autorität ſind nicht entbunden von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/326
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/326>, abgerufen am 24.11.2024.