Am. Kr. 11. Vgl. unten 574. 575. Die Regel, daß auch dem Feinde Treue zu halten sei -- Fides etiam hosti servanda -- (§ 566) ist uralt, und es kann von dieser natürlichen Menschenpflicht keine priesterliche Auto- rität dispensiren. Die Schranke der Ehre hat sich von jeher als besonders mäch- tig erwiesen in civilisirten Heeren, oft sogar noch stärker als die Schranke des natürlichen Rechts.
551.
Die Kriegsgewalt darf von den Beamten in Feindesland den Eid eines zeitlichen Gehorsams fordern und sie entlassen und fortweisen, wenn sie denselben verweigern. Der Gehorsam, den sie der Kriegsgewalt schul- den, ist durch die Dauer der Besitznahme beschränkt.
Vgl. oben 540 und 544. Einen Unterthaneneid darf die Kriegsgewalt nicht fordern, bevor die Eroberung dauernd geworden und durch den Frieden gesichert ist. Die Autorität der Kriegsgewalt in Feindesland ist nur eine provisorische, durch den Kriegszustand bedingte. Aber es kann unter Umständen nöthig oder zweck- mäßig sein, daß die Beamten, welche ihre öffentlichen Functionen fortsetzen, eid- lich verpflichtet werden, in der Zwischenzeit nichts gegen die Kriegsgewalt zu thun und deren Anordnungen zu befolgen. Wenn dieselben einen solchen, nur provisorisch wirkenden Eid verweigern, so weist das auf die feindliche Gesinnung dieser Beamten hin und die Kriegsgewalt hat Ursache, denselben mindestens jede öffentliche Autorität zu entziehn.
Ueber die Dauer des provisorischen Gehorsams vgl. zu § 544.
552.
Der Vertheidiger eines bedrohten Platzes soll die friedlichen Bewohner rechtzeitig auf die Gefahren aufmerksam machen, denen sie ausgesetzt wer- den und darf ihrem Wegzug keine anderen Hindernisse in den Weg legen, als welche die Sorge für die Kriegsführung nöthig macht.
553.
Wenn der Commandant eines festen Platzes die unkriegerischen Be- wohner in der Absicht fortweist, um den Platz gegen den Feind länger behaupten zu können, so kann diese Maßregel durch die militärische Noth- wendigkeit gerechtfertigt sein.
Aber auch der Belagerer kann sich auf dieselbe Nothwendigkeit be- rufen, wenn er in der Absicht, die Uebergabe des Platzes zu beschleunigen,
Das Kriegsrecht.
Am. Kr. 11. Vgl. unten 574. 575. Die Regel, daß auch dem Feinde Treue zu halten ſei — Fides etiam hosti servanda — (§ 566) iſt uralt, und es kann von dieſer natürlichen Menſchenpflicht keine prieſterliche Auto- rität dispenſiren. Die Schranke der Ehre hat ſich von jeher als beſonders mäch- tig erwieſen in civiliſirten Heeren, oft ſogar noch ſtärker als die Schranke des natürlichen Rechts.
551.
Die Kriegsgewalt darf von den Beamten in Feindesland den Eid eines zeitlichen Gehorſams fordern und ſie entlaſſen und fortweiſen, wenn ſie denſelben verweigern. Der Gehorſam, den ſie der Kriegsgewalt ſchul- den, iſt durch die Dauer der Beſitznahme beſchränkt.
Vgl. oben 540 und 544. Einen Unterthaneneid darf die Kriegsgewalt nicht fordern, bevor die Eroberung dauernd geworden und durch den Frieden geſichert iſt. Die Autorität der Kriegsgewalt in Feindesland iſt nur eine proviſoriſche, durch den Kriegszuſtand bedingte. Aber es kann unter Umſtänden nöthig oder zweck- mäßig ſein, daß die Beamten, welche ihre öffentlichen Functionen fortſetzen, eid- lich verpflichtet werden, in der Zwiſchenzeit nichts gegen die Kriegsgewalt zu thun und deren Anordnungen zu befolgen. Wenn dieſelben einen ſolchen, nur proviſoriſch wirkenden Eid verweigern, ſo weist das auf die feindliche Geſinnung dieſer Beamten hin und die Kriegsgewalt hat Urſache, denſelben mindeſtens jede öffentliche Autorität zu entziehn.
Ueber die Dauer des proviſoriſchen Gehorſams vgl. zu § 544.
552.
Der Vertheidiger eines bedrohten Platzes ſoll die friedlichen Bewohner rechtzeitig auf die Gefahren aufmerkſam machen, denen ſie ausgeſetzt wer- den und darf ihrem Wegzug keine anderen Hinderniſſe in den Weg legen, als welche die Sorge für die Kriegsführung nöthig macht.
553.
Wenn der Commandant eines feſten Platzes die unkriegeriſchen Be- wohner in der Abſicht fortweist, um den Platz gegen den Feind länger behaupten zu können, ſo kann dieſe Maßregel durch die militäriſche Noth- wendigkeit gerechtfertigt ſein.
Aber auch der Belagerer kann ſich auf dieſelbe Nothwendigkeit be- rufen, wenn er in der Abſicht, die Uebergabe des Platzes zu beſchleunigen,
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Das Kriegsrecht.
Am. Kr. 11. Vgl. unten 574. 575. Die Regel, daß auch dem Feinde
Treue zu halten ſei — Fides etiam hosti servanda — (§ 566) iſt
uralt, und es kann von dieſer natürlichen Menſchenpflicht keine prieſterliche Auto-
rität dispenſiren. Die Schranke der Ehre hat ſich von jeher als beſonders mäch-
tig erwieſen in civiliſirten Heeren, oft ſogar noch ſtärker als die Schranke des
natürlichen Rechts.
551.
Die Kriegsgewalt darf von den Beamten in Feindesland den Eid
eines zeitlichen Gehorſams fordern und ſie entlaſſen und fortweiſen, wenn
ſie denſelben verweigern. Der Gehorſam, den ſie der Kriegsgewalt ſchul-
den, iſt durch die Dauer der Beſitznahme beſchränkt.
Vgl. oben 540 und 544. Einen Unterthaneneid darf die Kriegsgewalt
nicht fordern, bevor die Eroberung dauernd geworden und durch den Frieden geſichert
iſt. Die Autorität der Kriegsgewalt in Feindesland iſt nur eine proviſoriſche,
durch den Kriegszuſtand bedingte. Aber es kann unter Umſtänden nöthig oder zweck-
mäßig ſein, daß die Beamten, welche ihre öffentlichen Functionen fortſetzen, eid-
lich verpflichtet werden, in der Zwiſchenzeit nichts gegen die Kriegsgewalt zu thun
und deren Anordnungen zu befolgen. Wenn dieſelben einen ſolchen, nur proviſoriſch
wirkenden Eid verweigern, ſo weist das auf die feindliche Geſinnung dieſer Beamten
hin und die Kriegsgewalt hat Urſache, denſelben mindeſtens jede öffentliche Autorität
zu entziehn.
Ueber die Dauer des proviſoriſchen Gehorſams vgl. zu § 544.
552.
Der Vertheidiger eines bedrohten Platzes ſoll die friedlichen Bewohner
rechtzeitig auf die Gefahren aufmerkſam machen, denen ſie ausgeſetzt wer-
den und darf ihrem Wegzug keine anderen Hinderniſſe in den Weg legen,
als welche die Sorge für die Kriegsführung nöthig macht.
553.
Wenn der Commandant eines feſten Platzes die unkriegeriſchen Be-
wohner in der Abſicht fortweist, um den Platz gegen den Feind länger
behaupten zu können, ſo kann dieſe Maßregel durch die militäriſche Noth-
wendigkeit gerechtfertigt ſein.
Aber auch der Belagerer kann ſich auf dieſelbe Nothwendigkeit be-
rufen, wenn er in der Abſicht, die Uebergabe des Platzes zu beſchleunigen,
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/331>, abgerufen am 24.11.2024.
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