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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Achtes Buch.

Es ist möglich, daß die Truppen der einen Partei früher unterrichtet werden,
als die der andern Partei, welche vielleicht von ihrem Hauptquartier abgeschnitten
ist. In solchen Fällen sind jene veranlaßt, diesen davon Anzeige zu machen, aber
auch diese veranlaßt, die Wahrheit der Anzeige sorgfältig zu prüfen, bevor sie der-
selben Glauben schenken. Es gilt in allen diesen Beziehungen nur die Eine durch-
greifende Regel der bona fides.

691.

Während der Waffenruhe und des Waffenstillstands ist jede Partei
berechtigt innerhalb des von ihr besetzten Gebietes Alles das zu thun, was
sie im Frieden thun dürfte, ausgenommen solche auf die Kriegsführung
bezügliche Handlungen, welche der Feind, wenn der Kampf fortdauerte, zu
verhindern veranlaßt wäre. Sie darf daher außerhalb des eigentlichen
Kampffeldes neue Rüstungen vornehmen, und Plätze befestigen, aber sie
darf nicht innerhalb desselben neue militärische Stellungen beziehen, oder
einen Rückzug der Truppen ausführen, noch in dem Bereich der feind-
lichen Geschütze neue Werke anlegen oder die zerstörten Werke wiederher-
stellen, sei es zum Angriff, sei es zur Vertheidigung. Sie darf auch nicht
einen Aufstand erregen in dem von den feindlichen Truppen besetzten
Gebiet, noch die Einwohner zur Uebergabe einladen.

Die Wirkungen der Waffenruhe und des Waffenstillstandes sind wesentlich
negativ. Sie hemmen die kriegerische Action. Es darf also voraus nicht mehr
gekämpft
werden, das Feuer wird eingestellt. Es muß überhaupt jeder Angriff
unterlassen werden; auch die Vorwärtsmärsche auf feindlichem Gebiet werden ein-
gestellt. Schwieriger aber ist es, zu bestimmen, ob und welche Vertheidigungs-
maßregeln
ebenfalls zu unterlassen sind, denn auch das ist kriegerische Action,
welche der Gegner zu hindern das größte Interesse hat, und welche er je nach seiner
Macht verhindern könnte, wenigstens zu verhindern versuchen würde, wenn
der Kampf fortgesetzt würde. Der Waffenstillstand allein hält ihn zurück, entgegen-
zuwirken. Eben deßhalb darf auch der Gegner solche Handlungen inzwischen nicht
vornehmen; denn dürfte dieser sie unter dem Schutze des Waffenstillstands unge-
fährdet vollziehen, so würde der Waffenstillstand nicht gleichmäßig beide Parteien
zur Ruhe verweisen, sondern die eine begünstigen und die andere benach-
theiligen
. Wenn also z. B. das eine Heer eine neue günstigere Stellung vor
dem Feind beziehen und vielleicht befestigen wollte, was der Feind, wenn der Kampf
fortgesetzt würde, verhindern könnte, so wäre das nicht Waffenruhe, sondern eine
militärische Action, welche vielleicht für den erneuerten Kampf entscheidend
würde. Wenn ferner bei der Belagerung einer Festung bereits eine Bresche ge-
schossen
und der vorbereitete Sturm durch eine Waffenruhe verschoben wird, so
darf der Belagerte nicht während derselben zum Nachtheil der Belagerer die Bresche

Achtes Buch.

Es iſt möglich, daß die Truppen der einen Partei früher unterrichtet werden,
als die der andern Partei, welche vielleicht von ihrem Hauptquartier abgeſchnitten
iſt. In ſolchen Fällen ſind jene veranlaßt, dieſen davon Anzeige zu machen, aber
auch dieſe veranlaßt, die Wahrheit der Anzeige ſorgfältig zu prüfen, bevor ſie der-
ſelben Glauben ſchenken. Es gilt in allen dieſen Beziehungen nur die Eine durch-
greifende Regel der bona fides.

691.

Während der Waffenruhe und des Waffenſtillſtands iſt jede Partei
berechtigt innerhalb des von ihr beſetzten Gebietes Alles das zu thun, was
ſie im Frieden thun dürfte, ausgenommen ſolche auf die Kriegsführung
bezügliche Handlungen, welche der Feind, wenn der Kampf fortdauerte, zu
verhindern veranlaßt wäre. Sie darf daher außerhalb des eigentlichen
Kampffeldes neue Rüſtungen vornehmen, und Plätze befeſtigen, aber ſie
darf nicht innerhalb desſelben neue militäriſche Stellungen beziehen, oder
einen Rückzug der Truppen ausführen, noch in dem Bereich der feind-
lichen Geſchütze neue Werke anlegen oder die zerſtörten Werke wiederher-
ſtellen, ſei es zum Angriff, ſei es zur Vertheidigung. Sie darf auch nicht
einen Aufſtand erregen in dem von den feindlichen Truppen beſetzten
Gebiet, noch die Einwohner zur Uebergabe einladen.

Die Wirkungen der Waffenruhe und des Waffenſtillſtandes ſind weſentlich
negativ. Sie hemmen die kriegeriſche Action. Es darf alſo voraus nicht mehr
gekämpft
werden, das Feuer wird eingeſtellt. Es muß überhaupt jeder Angriff
unterlaſſen werden; auch die Vorwärtsmärſche auf feindlichem Gebiet werden ein-
geſtellt. Schwieriger aber iſt es, zu beſtimmen, ob und welche Vertheidigungs-
maßregeln
ebenfalls zu unterlaſſen ſind, denn auch das iſt kriegeriſche Action,
welche der Gegner zu hindern das größte Intereſſe hat, und welche er je nach ſeiner
Macht verhindern könnte, wenigſtens zu verhindern verſuchen würde, wenn
der Kampf fortgeſetzt würde. Der Waffenſtillſtand allein hält ihn zurück, entgegen-
zuwirken. Eben deßhalb darf auch der Gegner ſolche Handlungen inzwiſchen nicht
vornehmen; denn dürfte dieſer ſie unter dem Schutze des Waffenſtillſtands unge-
fährdet vollziehen, ſo würde der Waffenſtillſtand nicht gleichmäßig beide Parteien
zur Ruhe verweiſen, ſondern die eine begünſtigen und die andere benach-
theiligen
. Wenn alſo z. B. das eine Heer eine neue günſtigere Stellung vor
dem Feind beziehen und vielleicht befeſtigen wollte, was der Feind, wenn der Kampf
fortgeſetzt würde, verhindern könnte, ſo wäre das nicht Waffenruhe, ſondern eine
militäriſche Action, welche vielleicht für den erneuerten Kampf entſcheidend
würde. Wenn ferner bei der Belagerung einer Feſtung bereits eine Breſche ge-
ſchoſſen
und der vorbereitete Sturm durch eine Waffenruhe verſchoben wird, ſo
darf der Belagerte nicht während derſelben zum Nachtheil der Belagerer die Breſche

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[376/0398] Achtes Buch. Es iſt möglich, daß die Truppen der einen Partei früher unterrichtet werden, als die der andern Partei, welche vielleicht von ihrem Hauptquartier abgeſchnitten iſt. In ſolchen Fällen ſind jene veranlaßt, dieſen davon Anzeige zu machen, aber auch dieſe veranlaßt, die Wahrheit der Anzeige ſorgfältig zu prüfen, bevor ſie der- ſelben Glauben ſchenken. Es gilt in allen dieſen Beziehungen nur die Eine durch- greifende Regel der bona fides. 691. Während der Waffenruhe und des Waffenſtillſtands iſt jede Partei berechtigt innerhalb des von ihr beſetzten Gebietes Alles das zu thun, was ſie im Frieden thun dürfte, ausgenommen ſolche auf die Kriegsführung bezügliche Handlungen, welche der Feind, wenn der Kampf fortdauerte, zu verhindern veranlaßt wäre. Sie darf daher außerhalb des eigentlichen Kampffeldes neue Rüſtungen vornehmen, und Plätze befeſtigen, aber ſie darf nicht innerhalb desſelben neue militäriſche Stellungen beziehen, oder einen Rückzug der Truppen ausführen, noch in dem Bereich der feind- lichen Geſchütze neue Werke anlegen oder die zerſtörten Werke wiederher- ſtellen, ſei es zum Angriff, ſei es zur Vertheidigung. Sie darf auch nicht einen Aufſtand erregen in dem von den feindlichen Truppen beſetzten Gebiet, noch die Einwohner zur Uebergabe einladen. Die Wirkungen der Waffenruhe und des Waffenſtillſtandes ſind weſentlich negativ. Sie hemmen die kriegeriſche Action. Es darf alſo voraus nicht mehr gekämpft werden, das Feuer wird eingeſtellt. Es muß überhaupt jeder Angriff unterlaſſen werden; auch die Vorwärtsmärſche auf feindlichem Gebiet werden ein- geſtellt. Schwieriger aber iſt es, zu beſtimmen, ob und welche Vertheidigungs- maßregeln ebenfalls zu unterlaſſen ſind, denn auch das iſt kriegeriſche Action, welche der Gegner zu hindern das größte Intereſſe hat, und welche er je nach ſeiner Macht verhindern könnte, wenigſtens zu verhindern verſuchen würde, wenn der Kampf fortgeſetzt würde. Der Waffenſtillſtand allein hält ihn zurück, entgegen- zuwirken. Eben deßhalb darf auch der Gegner ſolche Handlungen inzwiſchen nicht vornehmen; denn dürfte dieſer ſie unter dem Schutze des Waffenſtillſtands unge- fährdet vollziehen, ſo würde der Waffenſtillſtand nicht gleichmäßig beide Parteien zur Ruhe verweiſen, ſondern die eine begünſtigen und die andere benach- theiligen. Wenn alſo z. B. das eine Heer eine neue günſtigere Stellung vor dem Feind beziehen und vielleicht befeſtigen wollte, was der Feind, wenn der Kampf fortgeſetzt würde, verhindern könnte, ſo wäre das nicht Waffenruhe, ſondern eine militäriſche Action, welche vielleicht für den erneuerten Kampf entſcheidend würde. Wenn ferner bei der Belagerung einer Feſtung bereits eine Breſche ge- ſchoſſen und der vorbereitete Sturm durch eine Waffenruhe verſchoben wird, ſo darf der Belagerte nicht während derſelben zum Nachtheil der Belagerer die Breſche

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/398>, abgerufen am 22.11.2024.