Ohne Friedensschluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein- zelne Personen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge- walt gerathen waren, wieder von derselben befreit werden und es kann in Folge dessen das frühere Rechts- und Besitzesverhältniß wieder in un- gehemmte Wirksamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen wäre. Diese Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt gestörten Zu- standes heißt Postliminium.
1. Der Ausdruck postliminium ist dem römischen Recht entnommen, hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen an, daß durch die feindliche Gefangenschaft der römische Bürger, so lange dieselbe dauere, seine Freiheits- und seine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber sofort sein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, sich jener Gefangen- schaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er sei niemals gefangen worden, sondern habe sein Recht fortwährend erhalten, und nannten diese Fiction post- liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): "Dictum autem post- liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres voluerunt". Dieses antike und privatrechtlichepostliminium hat nun auf- gehört, weil die Kriegsgefangenschaft nicht mehr die persönlichen Rechte der Gefan- genen zerstört, sondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher keiner Wiederherstellung des Rechts in diesen Fällen mehr.
2. Das moderne völkerrechtlichePostliminium der heutigen Zeit hat vorzugsweise einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat- rechtliche Wirkungen äußert, so setzt es nicht grundsätzlich eine vorherige Verneinung des wieder herzustellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, sondern nur eine Behin- derung seiner Ausübung voraus.
728.
Wird ein von dem Feinde besetzter Gebietstheil von demselben frei- willig wieder geräumt oder wird derselbe durch die befreundete Kriegsgewalt wieder daraus verdrängt, so hört das feindliche Kriegsrecht sofort auf und es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.
Achtes Buch.
10. Postliminium.
727.
Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein- zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge- walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un- gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu- ſtandes heißt Postliminium.
1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen, hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen- ſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden, ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction post- liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post- liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres voluerunt“. Dieſes antike und privatrechtlichepostliminium hat nun auf- gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan- genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.
2. Das moderne völkerrechtlichePostliminium der heutigen Zeit hat vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat- rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin- derung ſeiner Ausübung voraus.
728.
Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei- willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0416"n="394"/><fwplace="top"type="header">Achtes Buch.</fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">10. <hirendition="#aq">Postliminium.</hi></hi></head><lb/><divn="4"><head>727.</head><lb/><p>Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein-<lb/>
zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge-<lb/>
walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann<lb/>
in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un-<lb/>
gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen<lb/>
wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu-<lb/>ſtandes heißt <hirendition="#aq">Postliminium.</hi></p><lb/><p>1. Der Ausdruck <hirendition="#g"><hirendition="#aq">postliminium</hi></hi> iſt dem römiſchen Recht entnommen,<lb/>
hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen<lb/>
an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe<lb/>
dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte <hirendition="#g">verliere</hi>, daß er aber ſofort<lb/>ſein vorheriges Recht <hirendition="#g">wieder erlange</hi>, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen-<lb/>ſchaft zu entziehn. Sie <hirendition="#g">fingirten</hi> dann, <hirendition="#g">er ſei niemals gefangen worden</hi>,<lb/>ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction <hirendition="#aq">post-<lb/>
liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post-<lb/>
liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros<lb/>
postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in<lb/>
domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres<lb/>
voluerunt“.</hi> Dieſes <hirendition="#g">antike</hi> und <hirendition="#g">privatrechtliche</hi><hirendition="#aq">postliminium</hi> hat nun auf-<lb/>
gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan-<lb/>
genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher<lb/>
keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.</p><lb/><p>2. Das <hirendition="#g">moderne völkerrechtliche</hi><hirendition="#aq">Postliminium</hi> der heutigen Zeit hat<lb/>
vorzugsweiſe einen <hirendition="#g">öffentlich-rechtlichen</hi> Charakter und wenn es auch privat-<lb/>
rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung<lb/>
des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin-<lb/>
derung ſeiner Ausübung voraus.</p></div><lb/><divn="4"><head>728.</head><lb/><p>Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei-<lb/>
willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt<lb/>
wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und<lb/>
es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt<lb/>
tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[394/0416]
Achtes Buch.
10. Postliminium.
727.
Ohne Friedensſchluß können ein Land und eine Bevölkerung, ein-
zelne Perſonen und Güter, welche während des Kriegs in feindliche Ge-
walt gerathen waren, wieder von derſelben befreit werden und es kann
in Folge deſſen das frühere Rechts- und Beſitzesverhältniß wieder in un-
gehemmte Wirkſamkeit treten, wie wenn eine Störung nicht vorgekommen
wäre. Dieſe Wiederbelebung des durch die Kriegsgewalt geſtörten Zu-
ſtandes heißt Postliminium.
1. Der Ausdruck postliminium iſt dem römiſchen Recht entnommen,
hatte aber dort eine andere Grundlage und einen andern Sinn. Die Römer nahmen
an, daß durch die feindliche Gefangenſchaft der römiſche Bürger, ſo lange dieſelbe
dauere, ſeine Freiheits- und ſeine bürgerlichen Rechte verliere, daß er aber ſofort
ſein vorheriges Recht wieder erlange, wenn es ihm gelinge, ſich jener Gefangen-
ſchaft zu entziehn. Sie fingirten dann, er ſei niemals gefangen worden,
ſondern habe ſein Recht fortwährend erhalten, und nannten dieſe Fiction post-
liminium. § 5. J. Quib. mod. jus pot. solv. (I. 12): „Dictum autem post-
liminium a limine et post, ut cum qui ab hostibus captus in fines nostros
postea pervenit postliminio reversum recte dicimus; nam limina sicut in
domibus finem quemdam faciunt, sic et imperii finem limen esse veteres
voluerunt“. Dieſes antike und privatrechtliche postliminium hat nun auf-
gehört, weil die Kriegsgefangenſchaft nicht mehr die perſönlichen Rechte der Gefan-
genen zerſtört, ſondern nur vorübergehend ihre Ausübung hindert. Es bedarf daher
keiner Wiederherſtellung des Rechts in dieſen Fällen mehr.
2. Das moderne völkerrechtliche Postliminium der heutigen Zeit hat
vorzugsweiſe einen öffentlich-rechtlichen Charakter und wenn es auch privat-
rechtliche Wirkungen äußert, ſo ſetzt es nicht grundſätzlich eine vorherige Verneinung
des wieder herzuſtellenden Rechts durch die Kriegsgewalt, ſondern nur eine Behin-
derung ſeiner Ausübung voraus.
728.
Wird ein von dem Feinde beſetzter Gebietstheil von demſelben frei-
willig wieder geräumt oder wird derſelbe durch die befreundete Kriegsgewalt
wieder daraus verdrängt, ſo hört das feindliche Kriegsrecht ſofort auf und
es wird das frühere Rechtsverhältniß erneuert. Die vormalige Statsgewalt
tritt wieder in ihre Rechte und Pflichten ein.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/416>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.