Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweites Buch.

Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebnisse der Weltgeschichte
als rechtsbeständig an.

Bei der Statenbildung wirken verschiedene politische Kräfte zusammen, der
Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der instinctiven Triebe und
des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbst-
bestimmung. Je nachdem ein Factor als entscheidende Autorität erkannt und aner-
kannt wird, erhält der Stat seine besondere Verfassungsform, denn wer die höchste
Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in seine Hand. Nur
die Geschichte macht es offenbar, ob ein Fürst, oder eine Aristokratie oder die Ge-
meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles sind nicht völ-
kerrechtliche sondern statsrechtliche Bildungen und Bestimmungen (Bluntschli,
Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht setzt das Nebeneinander der Staten
voraus, wie sie geschichtlich geworden sind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es,
gemeinsame Rechtsgrundsätze zu beachten.

Da das Völkerrecht selbst durch die Weltgeschichte fortgebildet
wird, so muß es auch im übrigen die Ergebnisse der Weltgeschichte
respectiren.

29.

Die Frage, ob, aus welchen Ursachen und in welcher Form ein
neuer Stat entstanden sei, ist voraus statsrechtlich.

Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter
Stat in der Genossenschaft der Staten Zutritt erhalte, ist wesentlich völ-
kerrechtlich.

Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten-
gemeinschaft geschieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.

Die Frage, ob ein wirklicher Stat existire, und was für eine Verfassung er
habe, ist zunächst eine Frage, welche ohne Rücksicht auf andere Staten lediglich im
Hinblick auf das bestimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem besonderen
Lande organisirte Volk, d. h. welche stats- nicht völkerrechtlich zu beant-
worten ist. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann
ist für diese die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statspersönlichkeit
da sei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes passen. Als die nord-
amerikanischen Colonien sich von England losrissen, war dieser geschichtliche Vorgang
zunächst ein Ereigniß innerhalb des englischen Stats und vorerst nach englischem
Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb-
ständigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entstand ein neues Stats-
recht
der nordamerikanischen Republiken, und in Folge dessen eine neue völker-
rechtliche
Beziehung derselben zu andern Staten. Die Frage, ob diese Staten
auch von den übrigen europäischen Staten anerkannt werden sollen, war nach völker-

Zweites Buch.

Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte
als rechtsbeſtändig an.

Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der
Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und
des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt-
beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner-
kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte
Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur
die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge-
meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ-
kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli,
Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten
voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es,
gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.

Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet
wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte
reſpectiren.

29.

Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein
neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.

Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter
Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ-
kerrechtlich.

Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten-
gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.

Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er
habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im
Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen
Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beant-
worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann
iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit
da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord-
amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang
zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem
Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb-
ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats-
recht
der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker-
rechtliche
Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten
auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0090" n="68"/>
                <fw place="top" type="header">Zweites Buch.</fw><lb/>
                <p>Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebni&#x017F;&#x017F;e der Weltge&#x017F;chichte<lb/>
als rechtsbe&#x017F;tändig an.</p><lb/>
                <p>Bei der Statenbildung wirken ver&#x017F;chiedene politi&#x017F;che Kräfte zu&#x017F;ammen, der<lb/>
Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der in&#x017F;tinctiven Triebe und<lb/>
des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selb&#x017F;t-<lb/>
be&#x017F;timmung. Je nachdem ein Factor als ent&#x017F;cheidende Autorität erkannt und aner-<lb/>
kannt wird, erhält der Stat &#x017F;eine be&#x017F;ondere Verfa&#x017F;&#x017F;ungsform, denn wer die höch&#x017F;te<lb/>
Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in &#x017F;eine Hand. Nur<lb/>
die Ge&#x017F;chichte macht es offenbar, ob ein Für&#x017F;t, oder eine Ari&#x017F;tokratie oder die Ge-<lb/>
meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles &#x017F;ind nicht völ-<lb/>
kerrechtliche &#x017F;ondern <hi rendition="#g">&#x017F;tatsrechtliche</hi> Bildungen und Be&#x017F;timmungen (<hi rendition="#g">Blunt&#x017F;chli</hi>,<lb/>
Allg. Statsrecht. Buch <hi rendition="#aq">III.</hi>). Das Völkerrecht &#x017F;etzt das Nebeneinander der Staten<lb/>
voraus, wie &#x017F;ie ge&#x017F;chichtlich geworden &#x017F;ind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es,<lb/>
gemein&#x017F;ame Rechtsgrund&#x017F;ätze zu beachten.</p><lb/>
                <p>Da das Völkerrecht &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">durch die Weltge&#x017F;chichte fortgebildet</hi><lb/>
wird, &#x017F;o muß es auch im übrigen die <hi rendition="#g">Ergebni&#x017F;&#x017F;e der Weltge&#x017F;chichte</hi><lb/>
re&#x017F;pectiren.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>29.</head><lb/>
                <p>Die Frage, ob, aus welchen Ur&#x017F;achen und in welcher Form ein<lb/>
neuer Stat ent&#x017F;tanden &#x017F;ei, i&#x017F;t voraus &#x017F;tatsrechtlich.</p><lb/>
                <p>Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter<lb/>
Stat in der Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der Staten Zutritt erhalte, i&#x017F;t we&#x017F;entlich völ-<lb/>
kerrechtlich.</p><lb/>
                <p>Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten-<lb/>
gemein&#x017F;chaft ge&#x017F;chieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.</p><lb/>
                <p>Die Frage, ob ein wirklicher Stat exi&#x017F;tire, und was für eine Verfa&#x017F;&#x017F;ung er<lb/>
habe, i&#x017F;t zunäch&#x017F;t eine Frage, welche ohne Rück&#x017F;icht auf andere Staten lediglich im<lb/>
Hinblick auf <hi rendition="#g">das be&#x017F;timmte</hi>, zu einem Stat geeinigte und in einem be&#x017F;onderen<lb/>
Lande organi&#x017F;irte <hi rendition="#g">Volk</hi>, d. h. welche <hi rendition="#g">&#x017F;tats- nicht völkerrechtlich</hi> zu beant-<lb/>
worten i&#x017F;t. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann<lb/>
i&#x017F;t für die&#x017F;e die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsper&#x017F;önlichkeit<lb/>
da &#x017F;ei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes pa&#x017F;&#x017F;en. Als die nord-<lb/>
amerikani&#x017F;chen Colonien &#x017F;ich von England losri&#x017F;&#x017F;en, war die&#x017F;er ge&#x017F;chichtliche Vorgang<lb/>
zunäch&#x017F;t ein Ereigniß innerhalb des engli&#x017F;chen Stats und vorer&#x017F;t nach engli&#x017F;chem<lb/>
Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb-<lb/>
&#x017F;tändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, ent&#x017F;tand ein <hi rendition="#g">neues Stats-<lb/>
recht</hi> der nordamerikani&#x017F;chen Republiken, und in Folge de&#x017F;&#x017F;en eine <hi rendition="#g">neue völker-<lb/>
rechtliche</hi> Beziehung der&#x017F;elben zu andern Staten. Die Frage, ob die&#x017F;e Staten<lb/>
auch von den übrigen europäi&#x017F;chen Staten anerkannt werden &#x017F;ollen, war nach völker-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0090] Zweites Buch. Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte als rechtsbeſtändig an. Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt- beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner- kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge- meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ- kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli, Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es, gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten. Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte reſpectiren. 29. Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich. Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ- kerrechtlich. Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten- gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten. Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beant- worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord- amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb- ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats- recht der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker- rechtliche Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/90
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/90>, abgerufen am 21.11.2024.