Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebnisse der Weltgeschichte als rechtsbeständig an.
Bei der Statenbildung wirken verschiedene politische Kräfte zusammen, der Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der instinctiven Triebe und des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbst- bestimmung. Je nachdem ein Factor als entscheidende Autorität erkannt und aner- kannt wird, erhält der Stat seine besondere Verfassungsform, denn wer die höchste Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in seine Hand. Nur die Geschichte macht es offenbar, ob ein Fürst, oder eine Aristokratie oder die Ge- meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles sind nicht völ- kerrechtliche sondern statsrechtliche Bildungen und Bestimmungen (Bluntschli, Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht setzt das Nebeneinander der Staten voraus, wie sie geschichtlich geworden sind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es, gemeinsame Rechtsgrundsätze zu beachten.
Da das Völkerrecht selbst durch die Weltgeschichte fortgebildet wird, so muß es auch im übrigen die Ergebnisse der Weltgeschichte respectiren.
29.
Die Frage, ob, aus welchen Ursachen und in welcher Form ein neuer Stat entstanden sei, ist voraus statsrechtlich.
Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter Stat in der Genossenschaft der Staten Zutritt erhalte, ist wesentlich völ- kerrechtlich.
Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten- gemeinschaft geschieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.
Die Frage, ob ein wirklicher Stat existire, und was für eine Verfassung er habe, ist zunächst eine Frage, welche ohne Rücksicht auf andere Staten lediglich im Hinblick auf das bestimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem besonderen Lande organisirte Volk, d. h. welche stats- nicht völkerrechtlich zu beant- worten ist. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann ist für diese die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statspersönlichkeit da sei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes passen. Als die nord- amerikanischen Colonien sich von England losrissen, war dieser geschichtliche Vorgang zunächst ein Ereigniß innerhalb des englischen Stats und vorerst nach englischem Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb- ständigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entstand ein neues Stats- recht der nordamerikanischen Republiken, und in Folge dessen eine neue völker- rechtliche Beziehung derselben zu andern Staten. Die Frage, ob diese Staten auch von den übrigen europäischen Staten anerkannt werden sollen, war nach völker-
Zweites Buch.
Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte als rechtsbeſtändig an.
Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt- beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner- kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge- meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ- kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli, Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es, gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.
Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte reſpectiren.
29.
Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.
Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ- kerrechtlich.
Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten- gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.
Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beant- worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord- amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb- ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats- recht der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker- rechtliche Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-
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Zweites Buch.
Das Völkerrecht erkennt die dauerhaften Ergebniſſe der Weltgeſchichte
als rechtsbeſtändig an.
Bei der Statenbildung wirken verſchiedene politiſche Kräfte zuſammen, der
Ordnung und der Freiheit, der Macht und des Willens, der inſtinctiven Triebe und
des leitenden Gedankens, der inneren oder äußeren Nöthigung und der freien Selbſt-
beſtimmung. Je nachdem ein Factor als entſcheidende Autorität erkannt und aner-
kannt wird, erhält der Stat ſeine beſondere Verfaſſungsform, denn wer die höchſte
Autorität hat, der nimmt gewöhnlich die Zügel des Regiments in ſeine Hand. Nur
die Geſchichte macht es offenbar, ob ein Fürſt, oder eine Ariſtokratie oder die Ge-
meinde der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten leite. Das Alles ſind nicht völ-
kerrechtliche ſondern ſtatsrechtliche Bildungen und Beſtimmungen (Bluntſchli,
Allg. Statsrecht. Buch III.). Das Völkerrecht ſetzt das Nebeneinander der Staten
voraus, wie ſie geſchichtlich geworden ſind. Die vorhandenen Staten verpflichtet es,
gemeinſame Rechtsgrundſätze zu beachten.
Da das Völkerrecht ſelbſt durch die Weltgeſchichte fortgebildet
wird, ſo muß es auch im übrigen die Ergebniſſe der Weltgeſchichte
reſpectiren.
29.
Die Frage, ob, aus welchen Urſachen und in welcher Form ein
neuer Stat entſtanden ſei, iſt voraus ſtatsrechtlich.
Die Frage dagegen, ob und in welcher Stellung ein neu gebildeter
Stat in der Genoſſenſchaft der Staten Zutritt erhalte, iſt weſentlich völ-
kerrechtlich.
Die Aufnahme des neuen States in die völkerrechtliche Staten-
gemeinſchaft geſchieht durch die Anerkennung der bisherigen Staten.
Die Frage, ob ein wirklicher Stat exiſtire, und was für eine Verfaſſung er
habe, iſt zunächſt eine Frage, welche ohne Rückſicht auf andere Staten lediglich im
Hinblick auf das beſtimmte, zu einem Stat geeinigte und in einem beſonderen
Lande organiſirte Volk, d. h. welche ſtats- nicht völkerrechtlich zu beant-
worten iſt. Aber wenn ein neuer Stat mit andern Staten in Beziehungen tritt, dann
iſt für dieſe die Ueberlegung nöthig, ob auch wirklich eine neue Statsperſönlichkeit
da ſei, auf welche die Rechte und Pflichten des Völkerrechtes paſſen. Als die nord-
amerikaniſchen Colonien ſich von England losriſſen, war dieſer geſchichtliche Vorgang
zunächſt ein Ereigniß innerhalb des engliſchen Stats und vorerſt nach engliſchem
Statsrecht zu beurtheilen; in dem Maße aber, in welchem die Colonien ihre Selb-
ſtändigkeit erkämpften und zu neuen Staten wurden, entſtand ein neues Stats-
recht der nordamerikaniſchen Republiken, und in Folge deſſen eine neue völker-
rechtliche Beziehung derſelben zu andern Staten. Die Frage, ob dieſe Staten
auch von den übrigen europäiſchen Staten anerkannt werden ſollen, war nach völker-
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/90>, abgerufen am 21.11.2024.
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