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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Von dem Sinnreichen
denen Dingen entdeket, es sey, daß diese Aehn-
lichkeiten ihren wahren Grund haben und in der
Natur der Sachen wesentlich seyn, oder daß sie
auf einem blossen Scheine beruhen. Das giebt
uns schon der blosse Ursprung des Wortes sinn-
reich
zu errathen. Sinnreich oder Geistreich ist
eben so viel als reich an Sinnen oder Geist. Es
ist eben nicht nothwendig, daß ein Einfall nach
dem guten Geschmake sey, wann er mit dem Bey-
wort Sinnreich oder Geistreich beleget werden soll.
Die Spiele der Phantasie und was die Franzo-
sen Esprit faux & mixte heissen, haben ein gleiches
Recht zu diesem Titel. Es wird auch keine gros-
se Geschiklichkeit erfodert, in den Schriften das
Sinnreiche von dem Vernünftigen oder Wahren,
welches alles allgemeine Benennungen sind, zu
unterscheiden.

Aber wie weit sich die Gränzen des Scharfsin-
nigen erstreken, worinnen die Natur desselben be-
stehe, und wie fern es von dem Sinnreichen un-
terschieden sey; dieses sind Fragen, derethalben
die Gelehrten annoch mißhellig sind; und die so
eigentlich noch nicht erörtert worden. Was der
Engelländische Zuschauer in dem zwey und sechzig-
sten St. davon gesagt, ist noch das Kläreste und
Gründlichste, das mir über diese Materie zu Ge-
sicht gekommen ist; wiewohl auch seine Begriffe
noch ziemlich unbestimmt sind, und die Stufen
und Gränzen des Scharfsinnigen nicht genug aus
einander sezen. Jndessen ist es zu meinem gegen-
wärtigen Vorhaben genung, daß ich die allgemei-
nen Grundregeln des Scharfsinnigen nach Herren

Wolfen

Von dem Sinnreichen
denen Dingen entdeket, es ſey, daß dieſe Aehn-
lichkeiten ihren wahren Grund haben und in der
Natur der Sachen weſentlich ſeyn, oder daß ſie
auf einem bloſſen Scheine beruhen. Das giebt
uns ſchon der bloſſe Urſprung des Wortes ſinn-
reich
zu errathen. Sinnreich oder Geiſtreich iſt
eben ſo viel als reich an Sinnen oder Geiſt. Es
iſt eben nicht nothwendig, daß ein Einfall nach
dem guten Geſchmake ſey, wann er mit dem Bey-
wort Sinnreich oder Geiſtreich beleget werden ſoll.
Die Spiele der Phantaſie und was die Franzo-
ſen Eſprit faux & mixte heiſſen, haben ein gleiches
Recht zu dieſem Titel. Es wird auch keine groſ-
ſe Geſchiklichkeit erfodert, in den Schriften das
Sinnreiche von dem Vernuͤnftigen oder Wahren,
welches alles allgemeine Benennungen ſind, zu
unterſcheiden.

Aber wie weit ſich die Graͤnzen des Scharfſin-
nigen erſtreken, worinnen die Natur deſſelben be-
ſtehe, und wie fern es von dem Sinnreichen un-
terſchieden ſey; dieſes ſind Fragen, derethalben
die Gelehrten annoch mißhellig ſind; und die ſo
eigentlich noch nicht eroͤrtert worden. Was der
Engellaͤndiſche Zuſchauer in dem zwey und ſechzig-
ſten St. davon geſagt, iſt noch das Klaͤreſte und
Gruͤndlichſte, das mir uͤber dieſe Materie zu Ge-
ſicht gekommen iſt; wiewohl auch ſeine Begriffe
noch ziemlich unbeſtimmt ſind, und die Stufen
und Graͤnzen des Scharfſinnigen nicht genug aus
einander ſezen. Jndeſſen iſt es zu meinem gegen-
waͤrtigen Vorhaben genung, daß ich die allgemei-
nen Grundregeln des Scharfſinnigen nach Herren

Wolfen
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[92/0108] Von dem Sinnreichen denen Dingen entdeket, es ſey, daß dieſe Aehn- lichkeiten ihren wahren Grund haben und in der Natur der Sachen weſentlich ſeyn, oder daß ſie auf einem bloſſen Scheine beruhen. Das giebt uns ſchon der bloſſe Urſprung des Wortes ſinn- reich zu errathen. Sinnreich oder Geiſtreich iſt eben ſo viel als reich an Sinnen oder Geiſt. Es iſt eben nicht nothwendig, daß ein Einfall nach dem guten Geſchmake ſey, wann er mit dem Bey- wort Sinnreich oder Geiſtreich beleget werden ſoll. Die Spiele der Phantaſie und was die Franzo- ſen Eſprit faux & mixte heiſſen, haben ein gleiches Recht zu dieſem Titel. Es wird auch keine groſ- ſe Geſchiklichkeit erfodert, in den Schriften das Sinnreiche von dem Vernuͤnftigen oder Wahren, welches alles allgemeine Benennungen ſind, zu unterſcheiden. Aber wie weit ſich die Graͤnzen des Scharfſin- nigen erſtreken, worinnen die Natur deſſelben be- ſtehe, und wie fern es von dem Sinnreichen un- terſchieden ſey; dieſes ſind Fragen, derethalben die Gelehrten annoch mißhellig ſind; und die ſo eigentlich noch nicht eroͤrtert worden. Was der Engellaͤndiſche Zuſchauer in dem zwey und ſechzig- ſten St. davon geſagt, iſt noch das Klaͤreſte und Gruͤndlichſte, das mir uͤber dieſe Materie zu Ge- ſicht gekommen iſt; wiewohl auch ſeine Begriffe noch ziemlich unbeſtimmt ſind, und die Stufen und Graͤnzen des Scharfſinnigen nicht genug aus einander ſezen. Jndeſſen iſt es zu meinem gegen- waͤrtigen Vorhaben genung, daß ich die allgemei- nen Grundregeln des Scharfſinnigen nach Herren Wolfen

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/108>, abgerufen am 21.11.2024.