[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.Verl. Paradies. I. B. seine übrigen Glieder lagen vorwärts auf derFlut, in die Länge und Breite ausgestrecket, und nahmen schwimmend viele Hufen Feldes ein, sie waren in ihrer ungeheuren Grösse denen ungefugen Riesen in den Fabeln gleich, dem Titanischen Stamme, den Kindern der Erden, die mit Jupiter Krieg führeten, dem Briareus und dem Typhon, welche sich in der Höle vor der alten Stadt Tharsus auf- hielten, oder dem Leviathan, einem Seethie- re, welches an Grösse das ungeheureste unter allen denen Wercken des Schöpfers ist, so in dem Oceanus schwimmen. Wenn ihn et- wann der Pilot eines kleinen verirrten Schif- fes Nachts in der beschäumten Norwegischen See Und nahmen schwimmend viele Hufen Feldes ein) Se-
het hier geistliche Wesen in cörperliche verwandelt. Der Poet redet nicht anderst davon, als wenn es wahrhafte Leiber wären. Er konnte sie den Sinnen und der Ein- bildung auf keine andre Weise vorstellig machen, als so er sie sichtbar und cörperlich machete. Dieses that er durch eine poetische Schöpfung, nach welcher das Mögliche ins Würckliche hinübergebracht wird. Er hat seiner Kunst und seiner Absicht eine vollkommene Gnüge gethan, wenn er die Gestalten und Verrichtungen seiner geistlichen Perso- nen also zugerichtet hat, daß sie ihren Character und ihre Geschichte der Phantasie auf eine empfindliche Weise vor- stellen, und alle die Eindrücke darinnen hervorbringen, welche zu der Absicht des Poeten dienen können. Die Poesie bekümmert sich eigentlich nicht um das Wahre des Verstands; es ist ihr nur um die Besiegung der Phantasie zu thun; darum begnüget sie sich an dem Wahrscheinlichen, welches auf das Zeugniß der Sinnen und der Phantasie gegründet ist. Verl. Paradies. I. B. ſeine uͤbrigen Glieder lagen vorwaͤrts auf derFlut, in die Laͤnge und Breite ausgeſtrecket, und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes ein, ſie waren in ihrer ungeheuren Groͤſſe denen ungefugen Rieſen in den Fabeln gleich, dem Titaniſchen Stamme, den Kindern der Erden, die mit Jupiter Krieg fuͤhreten, dem Briareus und dem Typhon, welche ſich in der Hoͤle vor der alten Stadt Tharſus auf- hielten, oder dem Leviathan, einem Seethie- re, welches an Groͤſſe das ungeheureſte unter allen denen Wercken des Schoͤpfers iſt, ſo in dem Oceanus ſchwimmen. Wenn ihn et- wann der Pilot eines kleinen verirrten Schif- fes Nachts in der beſchaͤumten Norwegiſchen See Und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes ein) Se-
het hier geiſtliche Weſen in coͤrperliche verwandelt. Der Poet redet nicht anderſt davon, als wenn es wahrhafte Leiber waͤren. Er konnte ſie den Sinnen und der Ein- bildung auf keine andre Weiſe vorſtellig machen, als ſo er ſie ſichtbar und coͤrperlich machete. Dieſes that er durch eine poetiſche Schoͤpfung, nach welcher das Moͤgliche ins Wuͤrckliche hinuͤbergebracht wird. Er hat ſeiner Kunſt und ſeiner Abſicht eine vollkommene Gnuͤge gethan, wenn er die Geſtalten und Verrichtungen ſeiner geiſtlichen Perſo- nen alſo zugerichtet hat, daß ſie ihren Character und ihre Geſchichte der Phantaſie auf eine empfindliche Weiſe vor- ſtellen, und alle die Eindruͤcke darinnen hervorbringen, welche zu der Abſicht des Poeten dienen koͤnnen. Die Poeſie bekuͤmmert ſich eigentlich nicht um das Wahre des Verſtands; es iſt ihr nur um die Beſiegung der Phantaſie zu thun; darum begnuͤget ſie ſich an dem Wahrſcheinlichen, welches auf das Zeugniß der Sinnen und der Phantaſie gegruͤndet iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0029" n="13"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Verl. Paradies. <hi rendition="#aq">I.</hi> B.</hi></fw><lb/> ſeine uͤbrigen Glieder lagen vorwaͤrts auf der<lb/> Flut, in die Laͤnge und Breite ausgeſtrecket,<lb/> und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes<lb/> ein, ſie waren in ihrer ungeheuren Groͤſſe<lb/> denen ungefugen Rieſen in den Fabeln gleich,<lb/> dem Titaniſchen Stamme, den Kindern der<lb/> Erden, die mit Jupiter Krieg fuͤhreten, dem<lb/> Briareus und dem Typhon, welche ſich in<lb/> der Hoͤle vor der alten Stadt Tharſus auf-<lb/> hielten, oder dem Leviathan, einem Seethie-<lb/> re, welches an Groͤſſe das ungeheureſte unter<lb/> allen denen Wercken des Schoͤpfers iſt, ſo<lb/> in dem Oceanus ſchwimmen. Wenn ihn et-<lb/> wann der Pilot eines kleinen verirrten Schif-<lb/> fes Nachts in der beſchaͤumten Norwegiſchen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">See</fw><lb/><note place="foot">Und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes ein) Se-<lb/> het hier geiſtliche Weſen in coͤrperliche verwandelt. Der<lb/> Poet redet nicht anderſt davon, als wenn es wahrhafte<lb/> Leiber waͤren. Er konnte ſie den Sinnen und der Ein-<lb/> bildung auf keine andre Weiſe vorſtellig machen, als ſo<lb/> er ſie ſichtbar und coͤrperlich machete. Dieſes that er<lb/> durch eine poetiſche Schoͤpfung, nach welcher das Moͤgliche<lb/> ins Wuͤrckliche hinuͤbergebracht wird. Er hat ſeiner Kunſt<lb/> und ſeiner Abſicht eine vollkommene Gnuͤge gethan, wenn<lb/> er die Geſtalten und Verrichtungen ſeiner geiſtlichen Perſo-<lb/> nen alſo zugerichtet hat, daß ſie ihren Character und ihre<lb/> Geſchichte der Phantaſie auf eine empfindliche Weiſe vor-<lb/> ſtellen, und alle die Eindruͤcke darinnen hervorbringen,<lb/> welche zu der Abſicht des Poeten dienen koͤnnen. Die<lb/> Poeſie bekuͤmmert ſich eigentlich nicht um das Wahre des<lb/> Verſtands; es iſt ihr nur um die Beſiegung der Phantaſie<lb/> zu thun; darum begnuͤget ſie ſich an dem Wahrſcheinlichen,<lb/> welches auf das Zeugniß der Sinnen und der Phantaſie<lb/> gegruͤndet iſt.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0029]
Verl. Paradies. I. B.
ſeine uͤbrigen Glieder lagen vorwaͤrts auf der
Flut, in die Laͤnge und Breite ausgeſtrecket,
und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes
ein, ſie waren in ihrer ungeheuren Groͤſſe
denen ungefugen Rieſen in den Fabeln gleich,
dem Titaniſchen Stamme, den Kindern der
Erden, die mit Jupiter Krieg fuͤhreten, dem
Briareus und dem Typhon, welche ſich in
der Hoͤle vor der alten Stadt Tharſus auf-
hielten, oder dem Leviathan, einem Seethie-
re, welches an Groͤſſe das ungeheureſte unter
allen denen Wercken des Schoͤpfers iſt, ſo
in dem Oceanus ſchwimmen. Wenn ihn et-
wann der Pilot eines kleinen verirrten Schif-
fes Nachts in der beſchaͤumten Norwegiſchen
See
Und nahmen ſchwimmend viele Hufen Feldes ein) Se-
het hier geiſtliche Weſen in coͤrperliche verwandelt. Der
Poet redet nicht anderſt davon, als wenn es wahrhafte
Leiber waͤren. Er konnte ſie den Sinnen und der Ein-
bildung auf keine andre Weiſe vorſtellig machen, als ſo
er ſie ſichtbar und coͤrperlich machete. Dieſes that er
durch eine poetiſche Schoͤpfung, nach welcher das Moͤgliche
ins Wuͤrckliche hinuͤbergebracht wird. Er hat ſeiner Kunſt
und ſeiner Abſicht eine vollkommene Gnuͤge gethan, wenn
er die Geſtalten und Verrichtungen ſeiner geiſtlichen Perſo-
nen alſo zugerichtet hat, daß ſie ihren Character und ihre
Geſchichte der Phantaſie auf eine empfindliche Weiſe vor-
ſtellen, und alle die Eindruͤcke darinnen hervorbringen,
welche zu der Abſicht des Poeten dienen koͤnnen. Die
Poeſie bekuͤmmert ſich eigentlich nicht um das Wahre des
Verſtands; es iſt ihr nur um die Beſiegung der Phantaſie
zu thun; darum begnuͤget ſie ſich an dem Wahrſcheinlichen,
welches auf das Zeugniß der Sinnen und der Phantaſie
gegruͤndet iſt.
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