[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.Johann Miltons See schlafend findet, sieht er ihn oft vor einEiland an, und wirfft, wie die Seefahrer erzehlen, den Ancker auf seine schuppigte Rinde aus, und hält sich an seiner Seite hinter dem Winde, so lange als die Nacht das Meer unsicher macht, und der gewünschte Morgen sich zögert. So weit in die Länge ausgebrei- tet lag der Ertzfeind auf dem brennenden Tei- che, wie mit Fesseln festgemacht, wäre auch nimmermehr von demselben aufgestanden, oder hätte nur sein Haupt empor gehoben, wofern ihn nicht der Wille und die Erlaubniß des allesregierenden Himmels seinen eignen schwar- zen Anschlägen wieder überlassen hätte, auf daß er durch wiederholte Uebelthaten die Ver- dammniß nur mit desto schwererer Last auf sein eignes Haupt weltzete, alldieweil er beflissen ist Wirft den Ancker auf seine schuppigte Rinde aus) Die
Poesie hat ein eigenes Recht auf die gemeine Sage, die Mährgen, und die Fabeln; massen diese gleichsam eine Historie von dem zweyten Rang ist, welche bey dem ge- meinen Haufen der Menschen eben so viel Glauben findet, und so viel Ansehen hat, als die wahrhafte Geschichte selbst. Denn dieses ist schon genug, die poetischen Vorstellungen, der Absicht des Dichters gemäß, wahrscheinlich zu machen. Wer dieses bey sich betrachtet, wird die aberglaubigen Dinge, die etwa von den Poeten zu ihrem Gebrauche an- gebracht werden, vor nichts mehrers nehmen, als vor apocryphische Geschichten, vor Begegnissen aus dem Rei- che der Poesie, vor Bestrebungen und Früchte der Ein- bildungskraft und des Witzes. Das sind diejenigen Ar- ten des Vermögens der Seele, deren Springfedern und Triebräder der Poet mit seinen Gewichten und Schlüsseln aufzieht, daß sie spielen. Johann Miltons See ſchlafend findet, ſieht er ihn oft vor einEiland an, und wirfft, wie die Seefahrer erzehlen, den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde aus, und haͤlt ſich an ſeiner Seite hinter dem Winde, ſo lange als die Nacht das Meer unſicher macht, und der gewuͤnſchte Morgen ſich zoͤgert. So weit in die Laͤnge ausgebrei- tet lag der Ertzfeind auf dem brennenden Tei- che, wie mit Feſſeln feſtgemacht, waͤre auch nimmermehr von demſelben aufgeſtanden, oder haͤtte nur ſein Haupt empor gehoben, wofern ihn nicht der Wille und die Erlaubniß des allesregierenden Himmels ſeinen eignen ſchwar- zen Anſchlaͤgen wieder uͤberlaſſen haͤtte, auf daß er durch wiederholte Uebelthaten die Ver- dammniß nur mit deſto ſchwererer Laſt auf ſein eignes Haupt weltzete, alldieweil er befliſſen iſt Wirft den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde aus) Die
Poeſie hat ein eigenes Recht auf die gemeine Sage, die Maͤhrgen, und die Fabeln; maſſen dieſe gleichſam eine Hiſtorie von dem zweyten Rang iſt, welche bey dem ge- meinen Haufen der Menſchen eben ſo viel Glauben findet, und ſo viel Anſehen hat, als die wahrhafte Geſchichte ſelbſt. Denn dieſes iſt ſchon genug, die poetiſchen Vorſtellungen, der Abſicht des Dichters gemaͤß, wahrſcheinlich zu machen. Wer dieſes bey ſich betrachtet, wird die aberglaubigen Dinge, die etwa von den Poeten zu ihrem Gebrauche an- gebracht werden, vor nichts mehrers nehmen, als vor apocryphiſche Geſchichten, vor Begegniſſen aus dem Rei- che der Poeſie, vor Beſtrebungen und Fruͤchte der Ein- bildungskraft und des Witzes. Das ſind diejenigen Ar- ten des Vermoͤgens der Seele, deren Springfedern und Triebraͤder der Poet mit ſeinen Gewichten und Schluͤſſeln aufzieht, daß ſie ſpielen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="14"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Johann Miltons</hi></fw><lb/> See ſchlafend findet, ſieht er ihn oft vor ein<lb/> Eiland an, und wirfft, wie die Seefahrer<lb/> erzehlen, den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde<lb/> aus, und haͤlt ſich an ſeiner Seite hinter dem<lb/> Winde, ſo lange als die Nacht das Meer<lb/> unſicher macht, und der gewuͤnſchte Morgen<lb/> ſich zoͤgert. So weit in die Laͤnge ausgebrei-<lb/> tet lag der Ertzfeind auf dem brennenden Tei-<lb/> che, wie mit Feſſeln feſtgemacht, waͤre auch<lb/> nimmermehr von demſelben aufgeſtanden, oder<lb/> haͤtte nur ſein Haupt empor gehoben, wofern<lb/> ihn nicht der Wille und die Erlaubniß des<lb/> allesregierenden Himmels ſeinen eignen ſchwar-<lb/> zen Anſchlaͤgen wieder uͤberlaſſen haͤtte, auf daß<lb/> er durch wiederholte Uebelthaten die Ver-<lb/> dammniß nur mit deſto ſchwererer Laſt auf ſein<lb/> eignes Haupt weltzete, alldieweil er befliſſen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">iſt</fw><lb/><note place="foot">Wirft den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde aus) Die<lb/> Poeſie hat ein eigenes Recht auf die gemeine Sage, die<lb/> Maͤhrgen, und die Fabeln; maſſen dieſe gleichſam eine<lb/> Hiſtorie von dem zweyten Rang iſt, welche bey dem ge-<lb/> meinen Haufen der Menſchen eben ſo viel Glauben findet,<lb/> und ſo viel Anſehen hat, als die wahrhafte Geſchichte ſelbſt.<lb/> Denn dieſes iſt ſchon genug, die poetiſchen Vorſtellungen,<lb/> der Abſicht des Dichters gemaͤß, wahrſcheinlich zu machen.<lb/> Wer dieſes bey ſich betrachtet, wird die aberglaubigen<lb/> Dinge, die etwa von den Poeten zu ihrem Gebrauche an-<lb/> gebracht werden, vor nichts mehrers nehmen, als vor<lb/> apocryphiſche Geſchichten, vor Begegniſſen aus dem Rei-<lb/> che der Poeſie, vor Beſtrebungen und Fruͤchte der Ein-<lb/> bildungskraft und des Witzes. Das ſind diejenigen Ar-<lb/> ten des Vermoͤgens der Seele, deren Springfedern und<lb/> Triebraͤder der Poet mit ſeinen Gewichten und Schluͤſſeln<lb/> aufzieht, daß ſie ſpielen.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0030]
Johann Miltons
See ſchlafend findet, ſieht er ihn oft vor ein
Eiland an, und wirfft, wie die Seefahrer
erzehlen, den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde
aus, und haͤlt ſich an ſeiner Seite hinter dem
Winde, ſo lange als die Nacht das Meer
unſicher macht, und der gewuͤnſchte Morgen
ſich zoͤgert. So weit in die Laͤnge ausgebrei-
tet lag der Ertzfeind auf dem brennenden Tei-
che, wie mit Feſſeln feſtgemacht, waͤre auch
nimmermehr von demſelben aufgeſtanden, oder
haͤtte nur ſein Haupt empor gehoben, wofern
ihn nicht der Wille und die Erlaubniß des
allesregierenden Himmels ſeinen eignen ſchwar-
zen Anſchlaͤgen wieder uͤberlaſſen haͤtte, auf daß
er durch wiederholte Uebelthaten die Ver-
dammniß nur mit deſto ſchwererer Laſt auf ſein
eignes Haupt weltzete, alldieweil er befliſſen
iſt
Wirft den Ancker auf ſeine ſchuppigte Rinde aus) Die
Poeſie hat ein eigenes Recht auf die gemeine Sage, die
Maͤhrgen, und die Fabeln; maſſen dieſe gleichſam eine
Hiſtorie von dem zweyten Rang iſt, welche bey dem ge-
meinen Haufen der Menſchen eben ſo viel Glauben findet,
und ſo viel Anſehen hat, als die wahrhafte Geſchichte ſelbſt.
Denn dieſes iſt ſchon genug, die poetiſchen Vorſtellungen,
der Abſicht des Dichters gemaͤß, wahrſcheinlich zu machen.
Wer dieſes bey ſich betrachtet, wird die aberglaubigen
Dinge, die etwa von den Poeten zu ihrem Gebrauche an-
gebracht werden, vor nichts mehrers nehmen, als vor
apocryphiſche Geſchichten, vor Begegniſſen aus dem Rei-
che der Poeſie, vor Beſtrebungen und Fruͤchte der Ein-
bildungskraft und des Witzes. Das ſind diejenigen Ar-
ten des Vermoͤgens der Seele, deren Springfedern und
Triebraͤder der Poet mit ſeinen Gewichten und Schluͤſſeln
aufzieht, daß ſie ſpielen.
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