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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Johann Miltons
er wider seinen hochmüthigen Willen in Thrä-
ner aus, solche, wie die Engel weinen, end-

lich
haftesten Feinde zu hassen. Die Ursache dessen mag seyn,
weil wir uns in den Gedancken in einerley Umstände setzen,
wie der vorgestellten Personen sind, und also denselbigen das
Mitleiden zukommen lassen, das wir für uns selber em-
pfinden würden; zumahl, da die Betrachtung dazu kömmt,
daß wir selber nur allzu leicht in eine gleiche Noth fallen
können, oder gewissermassen darinnen begriffen sind. Dem-
nach irren diejenigen sehr, welche davor halten, daß die
Geschichte der Engel nicht bequem sey, die menschlichen
Gemüther in Bewegung zu setzen; denn da wir durch die
Vorstellung der bösen und feindseligen Engel in derglei-
chen sanften Affect, wie das Mitleiden ist, gesetzet wer-
den, was vor süsse Affecte werden nicht die Begegnisse der
seligen Engel bey uns erwecken?
Solche Thränen, wie die Engel weinen) Milton hat
den Engeln nicht nur diejenige cörperliche Gestalt angezo-
gen, welche die ansehnlichste und bequemste war, nemlich
die menschliche, sondern er hat diese noch sehr verbessert
und verherrlichet. Jhre Schönheit, Grösse, Stärcke,
Munterkeit, Schnelligkeit, Unsterblichkeit, sind über-
menschlich, nicht nur an den seligen, sondern auch an den
gefallenen Engeln. Sie haben daneben die Kraft, sich
auszudähnen und zusammenzuziehen; das männliche oder
das weibliche Geschlecht an sich zu nehmen; sie leben durch
und durch in allen Theilen, ihr Leben besteht nicht, wie
bey den gebrechlichen Menschen, nur in dem Eingeweide,
dem Hertzen, Haupt, der Leber, oder den Nieren; in
denselben ist alles Hertz und Haupt, Auge und Ohr, Ver-
stand und Sinnen. Auf diesen Begriff sollen uns auch
die Worte führen, Thränen, wie die Engel weinen; wo-
mit bey aller der Gleichheit zwischen unsrem und dem En-
glischen Cörper ein Unterschied unter denselben angedeutet
wird.

Johann Miltons
er wider ſeinen hochmuͤthigen Willen in Thraͤ-
ner aus, ſolche, wie die Engel weinen, end-

lich
hafteſten Feinde zu haſſen. Die Urſache deſſen mag ſeyn,
weil wir uns in den Gedancken in einerley Umſtaͤnde ſetzen,
wie der vorgeſtellten Perſonen ſind, und alſo denſelbigen das
Mitleiden zukommen laſſen, das wir fuͤr uns ſelber em-
pfinden wuͤrden; zumahl, da die Betrachtung dazu koͤmmt,
daß wir ſelber nur allzu leicht in eine gleiche Noth fallen
koͤnnen, oder gewiſſermaſſen darinnen begriffen ſind. Dem-
nach irren diejenigen ſehr, welche davor halten, daß die
Geſchichte der Engel nicht bequem ſey, die menſchlichen
Gemuͤther in Bewegung zu ſetzen; denn da wir durch die
Vorſtellung der boͤſen und feindſeligen Engel in derglei-
chen ſanften Affect, wie das Mitleiden iſt, geſetzet wer-
den, was vor ſuͤſſe Affecte werden nicht die Begegniſſe der
ſeligen Engel bey uns erwecken?
Solche Thraͤnen, wie die Engel weinen) Milton hat
den Engeln nicht nur diejenige coͤrperliche Geſtalt angezo-
gen, welche die anſehnlichſte und bequemſte war, nemlich
die menſchliche, ſondern er hat dieſe noch ſehr verbeſſert
und verherrlichet. Jhre Schoͤnheit, Groͤſſe, Staͤrcke,
Munterkeit, Schnelligkeit, Unſterblichkeit, ſind uͤber-
menſchlich, nicht nur an den ſeligen, ſondern auch an den
gefallenen Engeln. Sie haben daneben die Kraft, ſich
auszudaͤhnen und zuſammenzuziehen; das maͤnnliche oder
das weibliche Geſchlecht an ſich zu nehmen; ſie leben durch
und durch in allen Theilen, ihr Leben beſteht nicht, wie
bey den gebrechlichen Menſchen, nur in dem Eingeweide,
dem Hertzen, Haupt, der Leber, oder den Nieren; in
denſelben iſt alles Hertz und Haupt, Auge und Ohr, Ver-
ſtand und Sinnen. Auf dieſen Begriff ſollen uns auch
die Worte fuͤhren, Thraͤnen, wie die Engel weinen; wo-
mit bey aller der Gleichheit zwiſchen unſrem und dem En-
gliſchen Coͤrper ein Unterſchied unter denſelben angedeutet
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[38/0054] Johann Miltons er wider ſeinen hochmuͤthigen Willen in Thraͤ- ner aus, ſolche, wie die Engel weinen, end- lich hafteſten Feinde zu haſſen. Die Urſache deſſen mag ſeyn, weil wir uns in den Gedancken in einerley Umſtaͤnde ſetzen, wie der vorgeſtellten Perſonen ſind, und alſo denſelbigen das Mitleiden zukommen laſſen, das wir fuͤr uns ſelber em- pfinden wuͤrden; zumahl, da die Betrachtung dazu koͤmmt, daß wir ſelber nur allzu leicht in eine gleiche Noth fallen koͤnnen, oder gewiſſermaſſen darinnen begriffen ſind. Dem- nach irren diejenigen ſehr, welche davor halten, daß die Geſchichte der Engel nicht bequem ſey, die menſchlichen Gemuͤther in Bewegung zu ſetzen; denn da wir durch die Vorſtellung der boͤſen und feindſeligen Engel in derglei- chen ſanften Affect, wie das Mitleiden iſt, geſetzet wer- den, was vor ſuͤſſe Affecte werden nicht die Begegniſſe der ſeligen Engel bey uns erwecken? Solche Thraͤnen, wie die Engel weinen) Milton hat den Engeln nicht nur diejenige coͤrperliche Geſtalt angezo- gen, welche die anſehnlichſte und bequemſte war, nemlich die menſchliche, ſondern er hat dieſe noch ſehr verbeſſert und verherrlichet. Jhre Schoͤnheit, Groͤſſe, Staͤrcke, Munterkeit, Schnelligkeit, Unſterblichkeit, ſind uͤber- menſchlich, nicht nur an den ſeligen, ſondern auch an den gefallenen Engeln. Sie haben daneben die Kraft, ſich auszudaͤhnen und zuſammenzuziehen; das maͤnnliche oder das weibliche Geſchlecht an ſich zu nehmen; ſie leben durch und durch in allen Theilen, ihr Leben beſteht nicht, wie bey den gebrechlichen Menſchen, nur in dem Eingeweide, dem Hertzen, Haupt, der Leber, oder den Nieren; in denſelben iſt alles Hertz und Haupt, Auge und Ohr, Ver- ſtand und Sinnen. Auf dieſen Begriff ſollen uns auch die Worte fuͤhren, Thraͤnen, wie die Engel weinen; wo- mit bey aller der Gleichheit zwiſchen unſrem und dem En- gliſchen Coͤrper ein Unterſchied unter denſelben angedeutet wird.

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/54>, abgerufen am 21.11.2024.