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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
erklären einen Scribenten so künstlich, daß nichts
vom Verstande übrig bleibt.

Jhr also, die ihr im Urtheilen die rechte Strasse
brauchen wollet, bemühet euch den Character je-
des Alten wohl zu erkennen. Ueberleget auf je-
dem Blatte die Fabel, den Jnhalt und den End-
zweck. Erforschet seine Religion, sein Vaterland,
den Geist und die Art seiner Zeiten. Liegen euch
alle diese Umstände nicht auf einmal vor Augen,
so möget ihr wohl klügeln, aber niemals mit Be-
stande urtheilen. Lasset euch die Werke des Ho-
mers eure Bemühung und eure Wollust seyn.
Leset sie bey Tage, und überleget sie bey Nacht.
Aus diesen müsset ihr euer Urtheil bilden, eure Be-
griffe nehmen, und also den Musen aufwärts bis
zu ihrem Ursprunge nachfolgen. Durchleset den
Text ohnermüdet. Vergleichet ihn mit ihm selb-
sten, und brauchet die Mantuaner-Muse zur Aus-
legung darüber. Da der junge Maro erstmals
von Königen und Schlachten sang, (d) eh ihm
noch der warnende Phoebus sein zitternd Ohr ge-
rühret hatte, so glaubte er sich vielleicht auch ü-
ber die Gesetze der Critick erhaben, und hielt sichs
schimpflich, aus einem andern als der Natur
Brunnen zu schöpfen. Aber da er alles Stuck-
weise untersucht hatte, da fand er, daß die Na-
tur und Homer einerley waren. Ueber diese
Wahrheit erstaunet, bezäumte er sein verwege-
nes Vorhaben, und ließ uns ein Werck, das

nach
(d) Cum canerem Reges & proelia, Cynthius aurem
vellit. Virgil. Eclog.
6.
D 5

eines Kunſtrichters.
erklaͤren einen Scribenten ſo kuͤnſtlich, daß nichts
vom Verſtande uͤbrig bleibt.

Jhr alſo, die ihr im Urtheilen die rechte Straſſe
brauchen wollet, bemuͤhet euch den Character je-
des Alten wohl zu erkennen. Ueberleget auf je-
dem Blatte die Fabel, den Jnhalt und den End-
zweck. Erforſchet ſeine Religion, ſein Vaterland,
den Geiſt und die Art ſeiner Zeiten. Liegen euch
alle dieſe Umſtaͤnde nicht auf einmal vor Augen,
ſo moͤget ihr wohl kluͤgeln, aber niemals mit Be-
ſtande urtheilen. Laſſet euch die Werke des Ho-
mers eure Bemuͤhung und eure Wolluſt ſeyn.
Leſet ſie bey Tage, und uͤberleget ſie bey Nacht.
Aus dieſen muͤſſet ihr euer Urtheil bilden, eure Be-
griffe nehmen, und alſo den Muſen aufwaͤrts bis
zu ihrem Urſprunge nachfolgen. Durchleſet den
Text ohnermuͤdet. Vergleichet ihn mit ihm ſelb-
ſten, und brauchet die Mantuaner-Muſe zur Aus-
legung daruͤber. Da der junge Maro erſtmals
von Koͤnigen und Schlachten ſang, (d) eh ihm
noch der warnende Phoebus ſein zitternd Ohr ge-
ruͤhret hatte, ſo glaubte er ſich vielleicht auch uͤ-
ber die Geſetze der Critick erhaben, und hielt ſichs
ſchimpflich, aus einem andern als der Natur
Brunnen zu ſchoͤpfen. Aber da er alles Stuck-
weiſe unterſucht hatte, da fand er, daß die Na-
tur und Homer einerley waren. Ueber dieſe
Wahrheit erſtaunet, bezaͤumte er ſein verwege-
nes Vorhaben, und ließ uns ein Werck, das

nach
(d) Cum canerem Reges & prœlia, Cynthius aurem
vellit. Virgil. Eclog.
6.
D 5
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[57/0073] eines Kunſtrichters. erklaͤren einen Scribenten ſo kuͤnſtlich, daß nichts vom Verſtande uͤbrig bleibt. Jhr alſo, die ihr im Urtheilen die rechte Straſſe brauchen wollet, bemuͤhet euch den Character je- des Alten wohl zu erkennen. Ueberleget auf je- dem Blatte die Fabel, den Jnhalt und den End- zweck. Erforſchet ſeine Religion, ſein Vaterland, den Geiſt und die Art ſeiner Zeiten. Liegen euch alle dieſe Umſtaͤnde nicht auf einmal vor Augen, ſo moͤget ihr wohl kluͤgeln, aber niemals mit Be- ſtande urtheilen. Laſſet euch die Werke des Ho- mers eure Bemuͤhung und eure Wolluſt ſeyn. Leſet ſie bey Tage, und uͤberleget ſie bey Nacht. Aus dieſen muͤſſet ihr euer Urtheil bilden, eure Be- griffe nehmen, und alſo den Muſen aufwaͤrts bis zu ihrem Urſprunge nachfolgen. Durchleſet den Text ohnermuͤdet. Vergleichet ihn mit ihm ſelb- ſten, und brauchet die Mantuaner-Muſe zur Aus- legung daruͤber. Da der junge Maro erſtmals von Koͤnigen und Schlachten ſang, (d) eh ihm noch der warnende Phoebus ſein zitternd Ohr ge- ruͤhret hatte, ſo glaubte er ſich vielleicht auch uͤ- ber die Geſetze der Critick erhaben, und hielt ſichs ſchimpflich, aus einem andern als der Natur Brunnen zu ſchoͤpfen. Aber da er alles Stuck- weiſe unterſucht hatte, da fand er, daß die Na- tur und Homer einerley waren. Ueber dieſe Wahrheit erſtaunet, bezaͤumte er ſein verwege- nes Vorhaben, und ließ uns ein Werck, das nach (d) Cum canerem Reges & prœlia, Cynthius aurem vellit. Virgil. Eclog. 6. D 5

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/73>, abgerufen am 21.11.2024.