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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften
nach den strengsten Regeln so genau ausgearbei-
tet ist, als ob der Stagyrite über jede Zeile die
Aufsicht geführet hätte. Lernet hieraus eine behö-
rige Hochachtung für die Regeln der Alten. Jh-
nen folgen ist der Natur nachfolgen.

Jnzwischen giebt es doch auch Schönheiten,
welche keine Regeln uns erklären können. Denn
nicht alle sind Früchte der Arbeit, einige müssen
glücklich gerathen. Die Dichtkunst gleichet der
Musick. Jn jeder sind gewisse Annehmlichkeiten,
die man nicht nennen, die kein Unterricht lehren
und nur eine Meisterhand erreichen kan. Die
Regeln sind nur zu Beförderung eines Endzwe-
kes gegeben. Erstrecken sie sich zuweilen nicht
weit genug, (e) und man kan den Zweck durch
eine glückliche Freyheit erhalten, so wird diese
Freyheit selbst zur Regel. So weiß sich der Pe-
gasus, mit einem edlen Absprung von der gemei-
nen Strasse, einen nähern Weg zu finden. So
dörfen grosse Geister unterweilen einen kühnen
Flug, über die Regeln, wagen, und erhabene
Fehler begehen, die ein rechtschaffener Critikus
nicht verbessern darf. Mit tapferer Unordnung
unterfangen sie einen Ausfall aus den gemeinen
Gränzen, und erbeuten Schönheiten ausserhalb des
Gebietes der Kunst, die, ohne durch unser Ur-
theil zu laufen, gerade ins Herze dringen, und

damit
(e) Neque tam sancta sunt ista praecepta, sed hoc
quicquid est utilitas excogitavit. Non negabo autem,
sic utile esse plerunque. Verum si eadem illa nobis aliud
suadebit utilitas, hanc, relictis magistrorum authorita-
tibus, sequemur. Quintil. lib. 2. cap.
13.

Verſuch von den Eigenſchaften
nach den ſtrengſten Regeln ſo genau ausgearbei-
tet iſt, als ob der Stagyrite uͤber jede Zeile die
Aufſicht gefuͤhret haͤtte. Lernet hieraus eine behoͤ-
rige Hochachtung fuͤr die Regeln der Alten. Jh-
nen folgen iſt der Natur nachfolgen.

Jnzwiſchen giebt es doch auch Schoͤnheiten,
welche keine Regeln uns erklaͤren koͤnnen. Denn
nicht alle ſind Fruͤchte der Arbeit, einige muͤſſen
gluͤcklich gerathen. Die Dichtkunſt gleichet der
Muſick. Jn jeder ſind gewiſſe Annehmlichkeiten,
die man nicht nennen, die kein Unterricht lehren
und nur eine Meiſterhand erreichen kan. Die
Regeln ſind nur zu Befoͤrderung eines Endzwe-
kes gegeben. Erſtrecken ſie ſich zuweilen nicht
weit genug, (e) und man kan den Zweck durch
eine gluͤckliche Freyheit erhalten, ſo wird dieſe
Freyheit ſelbſt zur Regel. So weiß ſich der Pe-
gaſus, mit einem edlen Abſprung von der gemei-
nen Straſſe, einen naͤhern Weg zu finden. So
doͤrfen groſſe Geiſter unterweilen einen kuͤhnen
Flug, uͤber die Regeln, wagen, und erhabene
Fehler begehen, die ein rechtſchaffener Critikus
nicht verbeſſern darf. Mit tapferer Unordnung
unterfangen ſie einen Ausfall aus den gemeinen
Graͤnzen, und erbeuten Schoͤnheiten auſſerhalb des
Gebietes der Kunſt, die, ohne durch unſer Ur-
theil zu laufen, gerade ins Herze dringen, und

damit
(e) Neque tam ſancta ſunt iſta præcepta, ſed hoc
quicquid est utilitas excogitavit. Non negabo autem,
ſic utile eſſe plerunque. Verum ſi eadem illa nobis aliud
ſuadebit utilitas, hanc, relictis magiſtrorum authorita-
tibus, ſequemur. Quintil. lib. 2. cap.
13.
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[58/0074] Verſuch von den Eigenſchaften nach den ſtrengſten Regeln ſo genau ausgearbei- tet iſt, als ob der Stagyrite uͤber jede Zeile die Aufſicht gefuͤhret haͤtte. Lernet hieraus eine behoͤ- rige Hochachtung fuͤr die Regeln der Alten. Jh- nen folgen iſt der Natur nachfolgen. Jnzwiſchen giebt es doch auch Schoͤnheiten, welche keine Regeln uns erklaͤren koͤnnen. Denn nicht alle ſind Fruͤchte der Arbeit, einige muͤſſen gluͤcklich gerathen. Die Dichtkunſt gleichet der Muſick. Jn jeder ſind gewiſſe Annehmlichkeiten, die man nicht nennen, die kein Unterricht lehren und nur eine Meiſterhand erreichen kan. Die Regeln ſind nur zu Befoͤrderung eines Endzwe- kes gegeben. Erſtrecken ſie ſich zuweilen nicht weit genug, (e) und man kan den Zweck durch eine gluͤckliche Freyheit erhalten, ſo wird dieſe Freyheit ſelbſt zur Regel. So weiß ſich der Pe- gaſus, mit einem edlen Abſprung von der gemei- nen Straſſe, einen naͤhern Weg zu finden. So doͤrfen groſſe Geiſter unterweilen einen kuͤhnen Flug, uͤber die Regeln, wagen, und erhabene Fehler begehen, die ein rechtſchaffener Critikus nicht verbeſſern darf. Mit tapferer Unordnung unterfangen ſie einen Ausfall aus den gemeinen Graͤnzen, und erbeuten Schoͤnheiten auſſerhalb des Gebietes der Kunſt, die, ohne durch unſer Ur- theil zu laufen, gerade ins Herze dringen, und damit (e) Neque tam ſancta ſunt iſta præcepta, ſed hoc quicquid est utilitas excogitavit. Non negabo autem, ſic utile eſſe plerunque. Verum ſi eadem illa nobis aliud ſuadebit utilitas, hanc, relictis magiſtrorum authorita- tibus, ſequemur. Quintil. lib. 2. cap. 13.

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/74>, abgerufen am 09.11.2024.