[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.eines Kunstrichters. So waren ehedessen die Kunstrichter. So war Horaz entzüket uns immer mit einer ohnbemü- Siehe [Crit. Samm.] F
eines Kunſtrichters. So waren ehedeſſen die Kunſtrichter. So war Horaz entzuͤket uns immer mit einer ohnbemuͤ- Siehe [Crit. Sam̃.] F
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eines Kunſtrichters.
So waren ehedeſſen die Kunſtrichter. So war
die geringe Zahl der gluͤcklichen Geiſter beſchaffen,
welche Athen und Rom in jenen beſſern Zeiten ge-
kannt haben. Der maͤchtige Stagyrite fuhr am
erſten vom Ufer ab. Er ließ alle ſeine Seegel flie-
gen und durfte die Tiefen erkundigen. Er ſteuer-
te ſicher und kam weit in ſeinen Entdekungen,
vom Lichte des Maͤoniſchen Sterns geleitet. Die
Poeten, ein Volk, das lange Zeit ungebunden
lebte, und eine wilde Freyheit eifrig behauptete;
unterwarfen ſich ſeinen Geſezen; und fanden ſich
uͤberzeugt, daß derjenige billig dem Wize vorſte-
hen ſollte, der die Natur ſelbſt unter ſich gebracht
hatte.
Horaz entzuͤket uns immer mit einer ohnbemuͤ-
heten freyen Anmuth. Seine Reden beſſern un-
ſere Vernunft, ohne kuͤnſtliche Lehrart. Gleich
einem Freunde bringt er uns die ſchoͤnſten Begrif-
fe auf die leichteſte Weiſe vertraulich bey. Er
haͤtte beh ſeiner groſſen Staͤrke an Wiz und Ur-
theilskraft eben ſo meiſterhaft urtheilen duͤrfen, als
meiſterhaft er geſchrieben. Aber er ſang voll feu-
riger Bewegung und urtheilte in der ſanfteſten
Stille. Seine Regeln lehren uns nichts, als
was ſeine Werke wirklich in uns erregen. Wie
ſehr ſind nicht unſere heutige Kunſtrichter auf die
Gegenſeite gefallen. Jn ihren Urtheilen herrſchet
Wuth uͤnd Galle, aber in ihren Schriften das
waͤſſrigſte Weſen; und Dichter beſchimpfen den
groſſen Horaz nicht aͤrger, durch ihre ungeſchick-
ten Ueberſezungen, als Kunſtrichter, wenn ſie
ihn ſo verkehrt anfuͤhren.
Siehe
[Crit. Sam̃.] F
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