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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften
Freund. Ja er hat ihm seine Fehler gezeigt.

- - - Aber wenn wird sich ein Poete
weisen lassen? Die heiligste Stätte ist nicht genug
für diesen Thoren verwachet, und die Pauls-
Kirche ist nicht sichrer für ihnen, als der Pauls-
Kirchhof. Ja fliehet ihr zu den Altären, so wer-
den sie euch selbst allda zu tode plaudern. Denn
Thoren dringen in Orte, die sich die Engel scheuen
zu betreten. Die Vernunft trauet sich nie zu
viel. Sie spricht allezeit mit einer sittsamen Vor-
sichtigkeit. Sie wagt sich nie zu weit hinaus und
sieht immer nach ihrem Heymath zurüke. Aber
die rasselnde Unvernunft bricht mit vollem Knal-
len heraus. Sie stürmet gerade vor sich, ohn-
abgewandt, ohnwiderständlich, und zerbirstet
in ein Wetter mit Donnern und Krachen.

Jedoch wo finden wir heute einen geschikten
Rathgeber? Einen Mann der willig zu lehren
und doch von seinem Wissen nicht aufgeblasen ist.
Den weder Gunst noch Haß zu lenken vermögen.
Der mit keinem dummen Vorurtheile beladen,
oder nur blindlings gut ist. Gelehrt aber doch
wohlgesittet, und wohlgesittet aber doch aufrich-
tig dabey. Dessen Feuer mit Sittsamkeit und
dessen Strenge mit Gelindigkeit gemässiget. Der
einem Freunde seine Fehler freymüthig entdeken,
und auch am Feinde das Verdienst aufrichtig rüh-
men kan. Der einen genauen doch nicht zu be-
schränkten Geschmak, und eine Kenntniß der Men-
schen sowohl als der Bücher besizet. Der einen
edlen Umgang und eine Seele hat, die kein Stolz
befleket. Der mit Freuden rühmet, wenn er bil-
lig rühmen kan.

So

Verſuch von den Eigenſchaften
Freund. Ja er hat ihm ſeine Fehler gezeigt.

‒ ‒ ‒ Aber wenn wird ſich ein Poete
weiſen laſſen? Die heiligſte Staͤtte iſt nicht genug
fuͤr dieſen Thoren verwachet, und die Pauls-
Kirche iſt nicht ſichrer fuͤr ihnen, als der Pauls-
Kirchhof. Ja fliehet ihr zu den Altaͤren, ſo wer-
den ſie euch ſelbſt allda zu tode plaudern. Denn
Thoren dringen in Orte, die ſich die Engel ſcheuen
zu betreten. Die Vernunft trauet ſich nie zu
viel. Sie ſpricht allezeit mit einer ſittſamen Vor-
ſichtigkeit. Sie wagt ſich nie zu weit hinaus und
ſieht immer nach ihrem Heymath zuruͤke. Aber
die raſſelnde Unvernunft bricht mit vollem Knal-
len heraus. Sie ſtuͤrmet gerade vor ſich, ohn-
abgewandt, ohnwiderſtaͤndlich, und zerbirſtet
in ein Wetter mit Donnern und Krachen.

Jedoch wo finden wir heute einen geſchikten
Rathgeber? Einen Mann der willig zu lehren
und doch von ſeinem Wiſſen nicht aufgeblaſen iſt.
Den weder Gunſt noch Haß zu lenken vermoͤgen.
Der mit keinem dummen Vorurtheile beladen,
oder nur blindlings gut iſt. Gelehrt aber doch
wohlgeſittet, und wohlgeſittet aber doch aufrich-
tig dabey. Deſſen Feuer mit Sittſamkeit und
deſſen Strenge mit Gelindigkeit gemaͤſſiget. Der
einem Freunde ſeine Fehler freymuͤthig entdeken,
und auch am Feinde das Verdienſt aufrichtig ruͤh-
men kan. Der einen genauen doch nicht zu be-
ſchraͤnkten Geſchmak, und eine Kenntniß der Men-
ſchen ſowohl als der Buͤcher beſizet. Der einen
edlen Umgang und eine Seele hat, die kein Stolz
befleket. Der mit Freuden ruͤhmet, wenn er bil-
lig ruͤhmen kan.

So
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[80/0096] Verſuch von den Eigenſchaften Freund. Ja er hat ihm ſeine Fehler gezeigt. ‒ ‒ ‒ Aber wenn wird ſich ein Poete weiſen laſſen? Die heiligſte Staͤtte iſt nicht genug fuͤr dieſen Thoren verwachet, und die Pauls- Kirche iſt nicht ſichrer fuͤr ihnen, als der Pauls- Kirchhof. Ja fliehet ihr zu den Altaͤren, ſo wer- den ſie euch ſelbſt allda zu tode plaudern. Denn Thoren dringen in Orte, die ſich die Engel ſcheuen zu betreten. Die Vernunft trauet ſich nie zu viel. Sie ſpricht allezeit mit einer ſittſamen Vor- ſichtigkeit. Sie wagt ſich nie zu weit hinaus und ſieht immer nach ihrem Heymath zuruͤke. Aber die raſſelnde Unvernunft bricht mit vollem Knal- len heraus. Sie ſtuͤrmet gerade vor ſich, ohn- abgewandt, ohnwiderſtaͤndlich, und zerbirſtet in ein Wetter mit Donnern und Krachen. Jedoch wo finden wir heute einen geſchikten Rathgeber? Einen Mann der willig zu lehren und doch von ſeinem Wiſſen nicht aufgeblaſen iſt. Den weder Gunſt noch Haß zu lenken vermoͤgen. Der mit keinem dummen Vorurtheile beladen, oder nur blindlings gut iſt. Gelehrt aber doch wohlgeſittet, und wohlgeſittet aber doch aufrich- tig dabey. Deſſen Feuer mit Sittſamkeit und deſſen Strenge mit Gelindigkeit gemaͤſſiget. Der einem Freunde ſeine Fehler freymuͤthig entdeken, und auch am Feinde das Verdienſt aufrichtig ruͤh- men kan. Der einen genauen doch nicht zu be- ſchraͤnkten Geſchmak, und eine Kenntniß der Men- ſchen ſowohl als der Buͤcher beſizet. Der einen edlen Umgang und eine Seele hat, die kein Stolz befleket. Der mit Freuden ruͤhmet, wenn er bil- lig ruͤhmen kan. So

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/96>, abgerufen am 09.11.2024.