[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.Nachrichten von dem Ursprunge mit Verleugnung der eigenen Empfindung ohneFoderung eines gründlichen Beweises, ohne Un- tersuchung, mit Glauben und Liebe angenommen. Was man darinnen nirgend hinzubringen gewußt hat, was dunckel, zweydeutig und verworren geschienen, hat man lieber seiner eigenen Unge- schicklichkeit, als des dreisten Kunstrichters ver- worrenen Kopf zugeschrieben. Jndessen ist Neu- kirch selbst einer der ersten gewesen, der in die Lo- hensteinische Schreibart einen Zweifel gesetzet, und sein Urtheil auf gewisse Weise zurückegenom- men hat. Er that dieses eine sehr kurtze Zeit her- nach; wie wir aus folgenden bekannten Zeilen se- hen, die aus einem Vermählungsgedichtee von 1700 genommen sind: Mein Reim klingt vielen schon sehr matt und ohne Kraft: Warum? Jch tränck ihn nicht mit Muscateller-Saft; Jch speis' ihn auch nicht mehr mit theuren Ambrakuchen, Denn er ist alt genug, die Nahrung selbst zu suchen. Zibeth und Biesam hat ihm manchen Dienst gethan: Nun will ich einmahl sehn, was er alleine kan. Alleine? Fraget ihr: Ja, wie gedacht, alleine. Denn, was ich ehmahls schrieb, war weder mein noch seine. Hier hatte Seneca, dort Plato was gesagt; Da hatt' ich einen Spruch dem Plautus abgejagt; Und etwann anderswo den Tacitus bestohlen. Auf diesen schwachen Grund, ich sag es unverholen, Baut' ich von Versen oft damahls ein gantzes Haus, Und ziert' es noch dazu mit Sinnebildern aus. Wie oftmahls muß ich nicht der abgeschmackten Sachen, Wann ich zurücke seh, noch bey mir selber lachen. Gleichwohl gefielen sie, und nahmen durch den Schein, Wie schlecht er immer war, viel hundert Leser ein. Ha! schrie man hier und da; für dem muß Opitz weichen. Ja, dacht ich, wenn ich ihn nur erstlich könnt erreichen! Den Willen hätt ich wohl. So wie ich es gedacht, So
Nachrichten von dem Urſprunge mit Verleugnung der eigenen Empfindung ohneFoderung eines gruͤndlichen Beweiſes, ohne Un- terſuchung, mit Glauben und Liebe angenommen. Was man darinnen nirgend hinzubringen gewußt hat, was dunckel, zweydeutig und verworren geſchienen, hat man lieber ſeiner eigenen Unge- ſchicklichkeit, als des dreiſten Kunſtrichters ver- worrenen Kopf zugeſchrieben. Jndeſſen iſt Neu- kirch ſelbſt einer der erſten geweſen, der in die Lo- henſteiniſche Schreibart einen Zweifel geſetzet, und ſein Urtheil auf gewiſſe Weiſe zuruͤckegenom- men hat. Er that dieſes eine ſehr kurtze Zeit her- nach; wie wir aus folgenden bekannten Zeilen ſe- hen, die aus einem Vermaͤhlungsgedichtee von 1700 genommen ſind: Mein Reim klingt vielen ſchon ſehr matt und ohne Kraft: Warum? Jch traͤnck ihn nicht mit Muſcateller-Saft; Jch ſpeiſ’ ihn auch nicht mehr mit theuren Ambrakuchen, Denn er iſt alt genug, die Nahrung ſelbſt zu ſuchen. Zibeth und Bieſam hat ihm manchen Dienſt gethan: Nun will ich einmahl ſehn, was er alleine kan. Alleine? Fraget ihr: Ja, wie gedacht, alleine. Denn, was ich ehmahls ſchrieb, war weder mein noch ſeine. Hier hatte Seneca, dort Plato was geſagt; Da hatt’ ich einen Spruch dem Plautus abgejagt; Und etwann anderswo den Tacitus beſtohlen. Auf dieſen ſchwachen Grund, ich ſag es unverholen, Baut’ ich von Verſen oft damahls ein gantzes Haus, Und ziert’ es noch dazu mit Sinnebildern aus. Wie oftmahls muß ich nicht der abgeſchmackten Sachen, Wann ich zuruͤcke ſeh, noch bey mir ſelber lachen. Gleichwohl gefielen ſie, und nahmen durch den Schein, Wie ſchlecht er immer war, viel hundert Leſer ein. Ha! ſchrie man hier und da; fuͤr dem muß Opitz weichen. Ja, dacht ich, wenn ich ihn nur erſtlich koͤnnt erreichen! Den Willen haͤtt ich wohl. So wie ich es gedacht, So
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Nachrichten von dem Urſprunge
mit Verleugnung der eigenen Empfindung ohne
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terſuchung, mit Glauben und Liebe angenommen.
Was man darinnen nirgend hinzubringen gewußt
hat, was dunckel, zweydeutig und verworren
geſchienen, hat man lieber ſeiner eigenen Unge-
ſchicklichkeit, als des dreiſten Kunſtrichters ver-
worrenen Kopf zugeſchrieben. Jndeſſen iſt Neu-
kirch ſelbſt einer der erſten geweſen, der in die Lo-
henſteiniſche Schreibart einen Zweifel geſetzet,
und ſein Urtheil auf gewiſſe Weiſe zuruͤckegenom-
men hat. Er that dieſes eine ſehr kurtze Zeit her-
nach; wie wir aus folgenden bekannten Zeilen ſe-
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1700 genommen ſind:
Mein Reim klingt vielen ſchon ſehr matt und ohne Kraft:
Warum? Jch traͤnck ihn nicht mit Muſcateller-Saft;
Jch ſpeiſ’ ihn auch nicht mehr mit theuren Ambrakuchen,
Denn er iſt alt genug, die Nahrung ſelbſt zu ſuchen.
Zibeth und Bieſam hat ihm manchen Dienſt gethan:
Nun will ich einmahl ſehn, was er alleine kan.
Alleine? Fraget ihr: Ja, wie gedacht, alleine.
Denn, was ich ehmahls ſchrieb, war weder mein noch ſeine.
Hier hatte Seneca, dort Plato was geſagt;
Da hatt’ ich einen Spruch dem Plautus abgejagt;
Und etwann anderswo den Tacitus beſtohlen.
Auf dieſen ſchwachen Grund, ich ſag es unverholen,
Baut’ ich von Verſen oft damahls ein gantzes Haus,
Und ziert’ es noch dazu mit Sinnebildern aus.
Wie oftmahls muß ich nicht der abgeſchmackten Sachen,
Wann ich zuruͤcke ſeh, noch bey mir ſelber lachen.
Gleichwohl gefielen ſie, und nahmen durch den Schein,
Wie ſchlecht er immer war, viel hundert Leſer ein.
Ha! ſchrie man hier und da; fuͤr dem muß Opitz weichen.
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