[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.der Critik bey den Deutschen. kraft zu rühren, und dem geschickten Gebrauchedesselben nur eine kahle und flüchtige Theorie ge- habt hat. Er sieht in den Wercken der alten Poeten nichts als Mythologische Dinge, die izo nicht mehr geglaubt werden; der hypothetische Grund ihrer Erdichtungen, der Zusammenhang ihrer Erfindungen, die Verknüpfung ihrer Absich- ten, die Affecte, so sie dadurch so geschickt zu er- höhen, und zu verringern gewußt, der Eindruck, und die Empfindungen, so sie an jedem Orte ih- rer Absicht und der Sache gemäß in dem gehöri- gen Grade mit einer beständigen Anmuth erwecken, die Sitten der Menschen, der Nationen, die Arten der Länder, der gantzen Natur Lauf und Wesen, das Schöne, das Grosse, das Wil- de in derselben, wovon sie so vortreffliche Ge- mählde machen, der moralische Unterricht, der mit allen diesen Sachen vergesellschaftet ist, die geschickte und mahlerische Ausdrückung, und der- gleichen Dinge sind vor den Augen und dem Ver- stande dieses übersichtigen Kunstrichters gäntzlich verborgen geblieben. Nach diesem kömmt uns nicht fremd vor, daß er die Verdienste der da- mahlslebenden deutschen Poeten eben so wenig zu schätzen gewußt hat. Er meinete, die viere, nem- lich Besser, Canitz, Neukirch, und Wenzel, könnten mit allen übrigen um den Vorzug streiten, und er gab unter diesen vieren dem letztern den Vorzug. "Jnsonderheit hat Wenzel, sagt er, "wal- [Crit. Samml. II. St.] J
der Critik bey den Deutſchen. kraft zu ruͤhren, und dem geſchickten Gebrauchedeſſelben nur eine kahle und fluͤchtige Theorie ge- habt hat. Er ſieht in den Wercken der alten Poeten nichts als Mythologiſche Dinge, die izo nicht mehr geglaubt werden; der hypothetiſche Grund ihrer Erdichtungen, der Zuſammenhang ihrer Erfindungen, die Verknuͤpfung ihrer Abſich- ten, die Affecte, ſo ſie dadurch ſo geſchickt zu er- hoͤhen, und zu verringern gewußt, der Eindruck, und die Empfindungen, ſo ſie an jedem Orte ih- rer Abſicht und der Sache gemaͤß in dem gehoͤri- gen Grade mit einer beſtaͤndigen Anmuth erwecken, die Sitten der Menſchen, der Nationen, die Arten der Laͤnder, der gantzen Natur Lauf und Weſen, das Schoͤne, das Groſſe, das Wil- de in derſelben, wovon ſie ſo vortreffliche Ge- maͤhlde machen, der moraliſche Unterricht, der mit allen dieſen Sachen vergeſellſchaftet iſt, die geſchickte und mahleriſche Ausdruͤckung, und der- gleichen Dinge ſind vor den Augen und dem Ver- ſtande dieſes uͤberſichtigen Kunſtrichters gaͤntzlich verborgen geblieben. Nach dieſem koͤmmt uns nicht fremd vor, daß er die Verdienſte der da- mahlslebenden deutſchen Poeten eben ſo wenig zu ſchaͤtzen gewußt hat. Er meinete, die viere, nem- lich Beſſer, Canitz, Neukirch, und Wenzel, koͤnnten mit allen uͤbrigen um den Vorzug ſtreiten, und er gab unter dieſen vieren dem letztern den Vorzug. „Jnſonderheit hat Wenzel, ſagt er, „wal- [Crit. Sam̃l. II. St.] J
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der Critik bey den Deutſchen.
kraft zu ruͤhren, und dem geſchickten Gebrauche
deſſelben nur eine kahle und fluͤchtige Theorie ge-
habt hat. Er ſieht in den Wercken der alten
Poeten nichts als Mythologiſche Dinge, die izo
nicht mehr geglaubt werden; der hypothetiſche
Grund ihrer Erdichtungen, der Zuſammenhang
ihrer Erfindungen, die Verknuͤpfung ihrer Abſich-
ten, die Affecte, ſo ſie dadurch ſo geſchickt zu er-
hoͤhen, und zu verringern gewußt, der Eindruck,
und die Empfindungen, ſo ſie an jedem Orte ih-
rer Abſicht und der Sache gemaͤß in dem gehoͤri-
gen Grade mit einer beſtaͤndigen Anmuth erwecken,
die Sitten der Menſchen, der Nationen, die
Arten der Laͤnder, der gantzen Natur Lauf und
Weſen, das Schoͤne, das Groſſe, das Wil-
de in derſelben, wovon ſie ſo vortreffliche Ge-
maͤhlde machen, der moraliſche Unterricht, der
mit allen dieſen Sachen vergeſellſchaftet iſt, die
geſchickte und mahleriſche Ausdruͤckung, und der-
gleichen Dinge ſind vor den Augen und dem Ver-
ſtande dieſes uͤberſichtigen Kunſtrichters gaͤntzlich
verborgen geblieben. Nach dieſem koͤmmt uns
nicht fremd vor, daß er die Verdienſte der da-
mahlslebenden deutſchen Poeten eben ſo wenig zu
ſchaͤtzen gewußt hat. Er meinete, die viere, nem-
lich Beſſer, Canitz, Neukirch, und Wenzel,
koͤnnten mit allen uͤbrigen um den Vorzug ſtreiten,
und er gab unter dieſen vieren dem letztern den
Vorzug.
„Jnſonderheit hat Wenzel, ſagt er,
„mir zum Muſter gedienet, dem ich in meiner
„Maaſſe, ſo gut ich gekonnt, zu folgen getrach-
„tet, weil die liebliche Fluͤſſigkeit des Hoffmanns-
„wal-
[Crit. Sam̃l. II. St.] J
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