[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.der Critik bey den Deutschen. andere, die noch bey Leben sind, mögen selber sa-gen, ob sie die Gedancken, für die Hr. Gottsched ihnen so feierlich dancksaget, darinnen erkennen. Jch bin versichert, daß sie durch das gantze Werck sich selber nirgend, Hrn. Gottsched auf allen Blätern antreffen werden. Die Hauptmaterien, welche auf den Titeln der Capitel angekündiget werden, sind gantz bequem, die Aufmercksamkeit des Lesers zu erwecken, aber werden mit so grosser Spar- samkeit der Gedancken und Schlüsse ausgeführet, daß man nach vollendetem Lesen fast nichts gründ- lichers weis, als was einem der blosse Titel zu verstehen gegeben hatte. Er bekümmert sich nicht sonderlich, die Natur derer Sachen, von denen er zu reden verspricht, auszuforschen und klar zu machen, sondern läßt uns öfters im Dunckeln sitzen, wenn wir eben verhoffen die wesentlichsten Lehren zu empfangen. Wir haben es vor einen Vortheil zu halten, wenn er uns nicht verwirret, an statt daß er uns erleuchten sollte. Giebt er uns ein geringes Licht von etwas, so hat er es bey irgend einem andern entlehnet, so daß man sein Werck in diesem Ansehn vor etwas bloß histori- sches halten muß. Was er eigenes hat, sind solche Fragen, die schwerlich jemand andrer vor nöthig achten würde abzuhandeln. Er aber ist darüber sehr ausführlich. Jn dem Vortrage herr- schet ein hinlässiges Wesen ohne Annehmlichkeit, und eine trockene Kaltsinnigkeit ohne Geschicklichkeit. Das eigenste in dieser Dichtkunst für die Deut- schen ist, daß der Autor, der seine Lehrsätze in der Vorrede mit so bescheidener Erniedrigung seiner selbst L 3
der Critik bey den Deutſchen. andere, die noch bey Leben ſind, moͤgen ſelber ſa-gen, ob ſie die Gedancken, fuͤr die Hr. Gottſched ihnen ſo feierlich danckſaget, darinnen erkennen. Jch bin verſichert, daß ſie durch das gantze Werck ſich ſelber nirgend, Hrn. Gottſched auf allen Blaͤtern antreffen werden. Die Hauptmaterien, welche auf den Titeln der Capitel angekuͤndiget werden, ſind gantz bequem, die Aufmerckſamkeit des Leſers zu erwecken, aber werden mit ſo groſſer Spar- ſamkeit der Gedancken und Schluͤſſe ausgefuͤhret, daß man nach vollendetem Leſen faſt nichts gruͤnd- lichers weis, als was einem der bloſſe Titel zu verſtehen gegeben hatte. Er bekuͤmmert ſich nicht ſonderlich, die Natur derer Sachen, von denen er zu reden verſpricht, auszuforſchen und klar zu machen, ſondern laͤßt uns oͤfters im Dunckeln ſitzen, wenn wir eben verhoffen die weſentlichſten Lehren zu empfangen. Wir haben es vor einen Vortheil zu halten, wenn er uns nicht verwirret, an ſtatt daß er uns erleuchten ſollte. Giebt er uns ein geringes Licht von etwas, ſo hat er es bey irgend einem andern entlehnet, ſo daß man ſein Werck in dieſem Anſehn vor etwas bloß hiſtori- ſches halten muß. Was er eigenes hat, ſind ſolche Fragen, die ſchwerlich jemand andrer vor noͤthig achten wuͤrde abzuhandeln. Er aber iſt daruͤber ſehr ausfuͤhrlich. Jn dem Vortrage herr- ſchet ein hinlaͤſſiges Weſen ohne Annehmlichkeit, und eine trockene Kaltſinnigkeit ohne Geſchicklichkeit. Das eigenſte in dieſer Dichtkunſt fuͤr die Deut- ſchen iſt, daß der Autor, der ſeine Lehrſaͤtze in der Vorrede mit ſo beſcheidener Erniedrigung ſeiner ſelbſt L 3
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der Critik bey den Deutſchen.
andere, die noch bey Leben ſind, moͤgen ſelber ſa-
gen, ob ſie die Gedancken, fuͤr die Hr. Gottſched
ihnen ſo feierlich danckſaget, darinnen erkennen.
Jch bin verſichert, daß ſie durch das gantze Werck
ſich ſelber nirgend, Hrn. Gottſched auf allen Blaͤtern
antreffen werden. Die Hauptmaterien, welche
auf den Titeln der Capitel angekuͤndiget werden,
ſind gantz bequem, die Aufmerckſamkeit des Leſers
zu erwecken, aber werden mit ſo groſſer Spar-
ſamkeit der Gedancken und Schluͤſſe ausgefuͤhret,
daß man nach vollendetem Leſen faſt nichts gruͤnd-
lichers weis, als was einem der bloſſe Titel zu
verſtehen gegeben hatte. Er bekuͤmmert ſich nicht
ſonderlich, die Natur derer Sachen, von denen
er zu reden verſpricht, auszuforſchen und klar zu
machen, ſondern laͤßt uns oͤfters im Dunckeln
ſitzen, wenn wir eben verhoffen die weſentlichſten
Lehren zu empfangen. Wir haben es vor einen
Vortheil zu halten, wenn er uns nicht verwirret,
an ſtatt daß er uns erleuchten ſollte. Giebt er
uns ein geringes Licht von etwas, ſo hat er es bey
irgend einem andern entlehnet, ſo daß man ſein
Werck in dieſem Anſehn vor etwas bloß hiſtori-
ſches halten muß. Was er eigenes hat, ſind
ſolche Fragen, die ſchwerlich jemand andrer vor
noͤthig achten wuͤrde abzuhandeln. Er aber iſt
daruͤber ſehr ausfuͤhrlich. Jn dem Vortrage herr-
ſchet ein hinlaͤſſiges Weſen ohne Annehmlichkeit, und
eine trockene Kaltſinnigkeit ohne Geſchicklichkeit.
Das eigenſte in dieſer Dichtkunſt fuͤr die Deut-
ſchen iſt, daß der Autor, der ſeine Lehrſaͤtze in der
Vorrede mit ſo beſcheidener Erniedrigung ſeiner
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