Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 3. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite

der herrschenden Poeten.
Die Schweizer sagen nein dazu, weil sie dieses
nicht empfinden. Wollen sie denn, daß wir ih-
rem Fühlen und Empfinden mehr als unsrem ei-
genen glauben sollen. Warum verlangen sie von
uns nicht auch, daß wir nicht mehr dasjenige vor
süß, oder sauer, oder bitter halten, was unsere
Zunge uns so zu empfinden giebt, sondern das,
was sie uns davor zu halten befehlen? Jch will
ihnen ihren Geschmak und ihre Einsichten
gönnen,
welches wahrhaftig schier zu viel ein-
geräumet ist, aber dann seh ich auch nicht,
woher sie sich ein Recht anmassen können,
ihre Meinungen auch uns aufzudringen.
(H h)
Man wird mich späte überreden, daß alles, was
sie schreiben, lauter Orakel seyn; daß ihnen die
Unfehlba keit und Unbetrüglichkeit zugetheilt sey.
Sie w[e]rden wenigstens hier oder da ihre Schwä-
chen, ihre Mängel, ihre Fehler haben. Jhr
beeistes Vaterland verheißt uns nichts vollkom-
menes, nichts reifes, die Musen sind daselbst
neu und fremde.
Haben sie schwache Theile,

wie
(H h) Man gönnet einem jeden seinen Geschmak,
und seine Einsicht; sieht aber hingegen auch nicht, wo-
her man sich ein Recht anmassen könne, seine Meinung
auch andren aufzudringen. - - - - -
- - Doch was brauchet es viel, sich gegen einen Rich-
ter zu verantworten, dem die Beurtheilung dieser Sache
nicht zusteht? Es hat uns gefallen, die Untersuchung,
so wie sie war, einzurüken. Was hat man dawider
zu sagen? Steht jemand das darinnen gefällte Urtheil
nicht an, so steht es ihm frey, ein anders davon zu
fällen, und alles dasjenige zu loben, was hier geta-
delt worden. Vorrede zum XXI. Beytr.
N 3

der herrſchenden Poeten.
Die Schweizer ſagen nein dazu, weil ſie dieſes
nicht empfinden. Wollen ſie denn, daß wir ih-
rem Fuͤhlen und Empfinden mehr als unſrem ei-
genen glauben ſollen. Warum verlangen ſie von
uns nicht auch, daß wir nicht mehr dasjenige vor
ſuͤß, oder ſauer, oder bitter halten, was unſere
Zunge uns ſo zu empfinden giebt, ſondern das,
was ſie uns davor zu halten befehlen? Jch will
ihnen ihren Geſchmak und ihre Einſichten
goͤnnen,
welches wahrhaftig ſchier zu viel ein-
geraͤumet iſt, aber dann ſeh ich auch nicht,
woher ſie ſich ein Recht anmaſſen koͤnnen,
ihre Meinungen auch uns aufzudringen.
(H h)
Man wird mich ſpaͤte uͤberreden, daß alles, was
ſie ſchreiben, lauter Orakel ſeyn; daß ihnen die
Unfehlba keit und Unbetruͤglichkeit zugetheilt ſey.
Sie w[e]rden wenigſtens hier oder da ihre Schwaͤ-
chen, ihre Maͤngel, ihre Fehler haben. Jhr
beeistes Vaterland verheißt uns nichts vollkom-
menes, nichts reifes, die Muſen ſind daſelbſt
neu und fremde.
Haben ſie ſchwache Theile,

wie
(H h) Man goͤnnet einem jeden ſeinen Geſchmak,
und ſeine Einſicht; ſieht aber hingegen auch nicht, wo-
her man ſich ein Recht anmaſſen koͤnne, ſeine Meinung
auch andren aufzudringen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ Doch was brauchet es viel, ſich gegen einen Rich-
ter zu verantworten, dem die Beurtheilung dieſer Sache
nicht zuſteht? Es hat uns gefallen, die Unterſuchung,
ſo wie ſie war, einzuruͤken. Was hat man dawider
zu ſagen? Steht jemand das darinnen gefaͤllte Urtheil
nicht an, ſo ſteht es ihm frey, ein anders davon zu
faͤllen, und alles dasjenige zu loben, was hier geta-
delt worden. Vorrede zum XXI. Beytr.
N 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0199" n="197"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der herr&#x017F;chenden Poeten.</hi></fw><lb/>
Die Schweizer &#x017F;agen nein dazu, weil &#x017F;ie die&#x017F;es<lb/>
nicht empfinden. Wollen &#x017F;ie denn, daß wir ih-<lb/>
rem Fu&#x0364;hlen und Empfinden mehr als un&#x017F;rem ei-<lb/>
genen glauben &#x017F;ollen. Warum verlangen &#x017F;ie von<lb/>
uns nicht auch, daß wir nicht mehr dasjenige vor<lb/>
&#x017F;u&#x0364;ß, oder &#x017F;auer, oder bitter halten, was un&#x017F;ere<lb/>
Zunge uns &#x017F;o zu empfinden giebt, &#x017F;ondern das,<lb/>
was &#x017F;ie uns davor zu halten befehlen? <hi rendition="#fr">Jch will<lb/>
ihnen ihren Ge&#x017F;chmak und ihre Ein&#x017F;ichten<lb/>
go&#x0364;nnen,</hi> welches wahrhaftig &#x017F;chier zu viel ein-<lb/>
gera&#x0364;umet i&#x017F;t, <hi rendition="#fr">aber dann &#x017F;eh ich auch nicht,<lb/>
woher &#x017F;ie &#x017F;ich ein Recht anma&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen,<lb/>
ihre Meinungen auch uns aufzudringen.</hi> <note place="foot" n="(H h)">Man go&#x0364;nnet einem jeden &#x017F;einen Ge&#x017F;chmak,<lb/>
und &#x017F;eine Ein&#x017F;icht; &#x017F;ieht aber hingegen auch nicht, wo-<lb/>
her man &#x017F;ich ein Recht anma&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nne, &#x017F;eine Meinung<lb/>
auch andren aufzudringen. &#x2012; &#x2012; &#x2012; &#x2012; &#x2012;<lb/>
&#x2012; &#x2012; Doch was brauchet es viel, &#x017F;ich gegen einen Rich-<lb/>
ter zu verantworten, dem die Beurtheilung die&#x017F;er Sache<lb/>
nicht zu&#x017F;teht? Es hat uns gefallen, die Unter&#x017F;uchung,<lb/>
&#x017F;o wie &#x017F;ie war, einzuru&#x0364;ken. Was hat man dawider<lb/>
zu &#x017F;agen? Steht jemand das darinnen gefa&#x0364;llte Urtheil<lb/>
nicht an, &#x017F;o &#x017F;teht es ihm frey, ein anders davon zu<lb/>
fa&#x0364;llen, und alles dasjenige zu loben, was hier geta-<lb/>
delt worden. <hi rendition="#fr">Vorrede zum</hi> <hi rendition="#aq">XXI.</hi> <hi rendition="#fr">Beytr.</hi></note><lb/>
Man wird mich &#x017F;pa&#x0364;te u&#x0364;berreden, daß alles, was<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chreiben, lauter Orakel &#x017F;eyn; daß ihnen die<lb/>
Unfehlba keit und Unbetru&#x0364;glichkeit zugetheilt &#x017F;ey.<lb/>
Sie w<supplied>e</supplied>rden wenig&#x017F;tens hier oder da ihre Schwa&#x0364;-<lb/>
chen, ihre Ma&#x0364;ngel, ihre Fehler haben. Jhr<lb/>
beeistes Vaterland verheißt uns nichts vollkom-<lb/>
menes, nichts reifes, <hi rendition="#fr">die Mu&#x017F;en &#x017F;ind da&#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
neu und fremde.</hi> Haben &#x017F;ie &#x017F;chwache Theile,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 3</fw><fw place="bottom" type="catch">wie</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0199] der herrſchenden Poeten. Die Schweizer ſagen nein dazu, weil ſie dieſes nicht empfinden. Wollen ſie denn, daß wir ih- rem Fuͤhlen und Empfinden mehr als unſrem ei- genen glauben ſollen. Warum verlangen ſie von uns nicht auch, daß wir nicht mehr dasjenige vor ſuͤß, oder ſauer, oder bitter halten, was unſere Zunge uns ſo zu empfinden giebt, ſondern das, was ſie uns davor zu halten befehlen? Jch will ihnen ihren Geſchmak und ihre Einſichten goͤnnen, welches wahrhaftig ſchier zu viel ein- geraͤumet iſt, aber dann ſeh ich auch nicht, woher ſie ſich ein Recht anmaſſen koͤnnen, ihre Meinungen auch uns aufzudringen. (H h) Man wird mich ſpaͤte uͤberreden, daß alles, was ſie ſchreiben, lauter Orakel ſeyn; daß ihnen die Unfehlba keit und Unbetruͤglichkeit zugetheilt ſey. Sie werden wenigſtens hier oder da ihre Schwaͤ- chen, ihre Maͤngel, ihre Fehler haben. Jhr beeistes Vaterland verheißt uns nichts vollkom- menes, nichts reifes, die Muſen ſind daſelbſt neu und fremde. Haben ſie ſchwache Theile, wie (H h) Man goͤnnet einem jeden ſeinen Geſchmak, und ſeine Einſicht; ſieht aber hingegen auch nicht, wo- her man ſich ein Recht anmaſſen koͤnne, ſeine Meinung auch andren aufzudringen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ Doch was brauchet es viel, ſich gegen einen Rich- ter zu verantworten, dem die Beurtheilung dieſer Sache nicht zuſteht? Es hat uns gefallen, die Unterſuchung, ſo wie ſie war, einzuruͤken. Was hat man dawider zu ſagen? Steht jemand das darinnen gefaͤllte Urtheil nicht an, ſo ſteht es ihm frey, ein anders davon zu faͤllen, und alles dasjenige zu loben, was hier geta- delt worden. Vorrede zum XXI. Beytr. N 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung03_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung03_1742/199
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 3. Zürich, 1742, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung03_1742/199>, abgerufen am 24.11.2024.