Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

Hrn. Vatry Gedancken
denheit zu bringen. Zweytens gaben sie ihm eine
gewisse Pracht und Hoheit. Drittens vermehre-
ten sie das pathetische Wesen in demselben.

Sie brachten erstlich mehr Ordnung in das
Trauerspiel, indem sie eine natürliche Folge der
verständigen Wahl der aufgeführten Handlung
und des Ortes der Scene waren, und überdieß
den meisten Regeln des Theaters zum Grunde die-
neten. Sie brachten mehr Verschiedenheit in
dasselbe, theils an Vorrath von Sachen, theils in
Ansehung der Vorstellung. Bey den Alten war
der Platz der Scene allemahl ein öffentlicher Ort.
Die Zuseher müssen sich einbilden können, daß sie
bey der Handlung gegenwärtig seyn; und wie kön-
nen sie sich dieses einbilden, wenn sie sich in einem
Cabinet begiebt? Ueber dieses muß eine Handlung,
wann sie mit genugsamer Wahrscheinlichkeit auf
den Schauplatz gebracht werden soll, landkündig
und lautbar seyn, sie muß unter den Vornehm-
sten des Staats begegnen, und von einer Natur
seyn, daß ein gantzes Volck sich darum bekümmert.
Daher folgt, daß sie eine grosse Anzahl Zeu-
gen, die sich derselben annehmen, an einen Ort
versammeln muß. Diese Zeugen formieren den
Chor. Es wäre nicht natürlich, daß Leute, die
an der Handlung Antheil nehmen und ihren Aus-
gang mit Ungeduld erwarten, allezeit ohne ein Wort
zu sagen da stühnden; vielmehr erfodert die Ver-
nunft, daß sie sich von dem unterreden, was eben
dann vorgehet, was sie zu hoffen, oder zu fürch-
ten haben, so oft die Hauptpersonen von dem
Schauplatz abgetreten, und ihnen darzu Zeit und

Musse

Hrn. Vatry Gedancken
denheit zu bringen. Zweytens gaben ſie ihm eine
gewiſſe Pracht und Hoheit. Drittens vermehre-
ten ſie das pathetiſche Weſen in demſelben.

Sie brachten erſtlich mehr Ordnung in das
Trauerſpiel, indem ſie eine natuͤrliche Folge der
verſtaͤndigen Wahl der aufgefuͤhrten Handlung
und des Ortes der Scene waren, und uͤberdieß
den meiſten Regeln des Theaters zum Grunde die-
neten. Sie brachten mehr Verſchiedenheit in
daſſelbe, theils an Vorrath von Sachen, theils in
Anſehung der Vorſtellung. Bey den Alten war
der Platz der Scene allemahl ein oͤffentlicher Ort.
Die Zuſeher muͤſſen ſich einbilden koͤnnen, daß ſie
bey der Handlung gegenwaͤrtig ſeyn; und wie koͤn-
nen ſie ſich dieſes einbilden, wenn ſie ſich in einem
Cabinet begiebt? Ueber dieſes muß eine Handlung,
wann ſie mit genugſamer Wahrſcheinlichkeit auf
den Schauplatz gebracht werden ſoll, landkuͤndig
und lautbar ſeyn, ſie muß unter den Vornehm-
ſten des Staats begegnen, und von einer Natur
ſeyn, daß ein gantzes Volck ſich darum bekuͤmmert.
Daher folgt, daß ſie eine groſſe Anzahl Zeu-
gen, die ſich derſelben annehmen, an einen Ort
verſammeln muß. Dieſe Zeugen formieren den
Chor. Es waͤre nicht natuͤrlich, daß Leute, die
an der Handlung Antheil nehmen und ihren Aus-
gang mit Ungeduld erwarten, allezeit ohne ein Wort
zu ſagen da ſtuͤhnden; vielmehr erfodert die Ver-
nunft, daß ſie ſich von dem unterreden, was eben
dann vorgehet, was ſie zu hoffen, oder zu fuͤrch-
ten haben, ſo oft die Hauptperſonen von dem
Schauplatz abgetreten, und ihnen darzu Zeit und

Muſſe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0086" n="86"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Hrn. Vatry Gedancken</hi></fw><lb/>
denheit zu bringen. Zweytens gaben &#x017F;ie ihm eine<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Pracht und Hoheit. Drittens vermehre-<lb/>
ten &#x017F;ie das patheti&#x017F;che We&#x017F;en in dem&#x017F;elben.</p><lb/>
        <p>Sie brachten er&#x017F;tlich mehr Ordnung in das<lb/>
Trauer&#x017F;piel, indem &#x017F;ie eine natu&#x0364;rliche Folge der<lb/>
ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen Wahl der aufgefu&#x0364;hrten Handlung<lb/>
und des Ortes der Scene waren, und u&#x0364;ber<hi rendition="#fr">d</hi>ieß<lb/>
den mei&#x017F;ten Regeln des Theaters zum Grunde die-<lb/>
neten. Sie brachten mehr Ver&#x017F;chiedenheit in<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe, theils an Vorrath von Sachen, theils in<lb/>
An&#x017F;ehung der Vor&#x017F;tellung. Bey den Alten war<lb/>
der Platz der Scene allemahl ein o&#x0364;ffentlicher Ort.<lb/>
Die Zu&#x017F;eher mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich einbilden ko&#x0364;nnen, daß &#x017F;ie<lb/>
bey der Handlung gegenwa&#x0364;rtig &#x017F;eyn; und wie ko&#x0364;n-<lb/>
nen &#x017F;ie &#x017F;ich die&#x017F;es einbilden, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich in einem<lb/>
Cabinet begiebt? Ueber die&#x017F;es muß eine Handlung,<lb/>
wann &#x017F;ie mit genug&#x017F;amer Wahr&#x017F;cheinlichkeit auf<lb/>
den Schauplatz gebracht werden &#x017F;oll, landku&#x0364;ndig<lb/>
und lautbar &#x017F;eyn, &#x017F;ie muß unter den Vornehm-<lb/>
&#x017F;ten des Staats begegnen, und von einer Natur<lb/>
&#x017F;eyn, daß ein gantzes Volck &#x017F;ich darum beku&#x0364;mmert.<lb/>
Daher folgt, daß &#x017F;ie eine gro&#x017F;&#x017F;e Anzahl Zeu-<lb/>
gen, die &#x017F;ich der&#x017F;elben annehmen, an einen Ort<lb/>
ver&#x017F;ammeln muß. Die&#x017F;e Zeugen formieren den<lb/>
Chor. Es wa&#x0364;re nicht natu&#x0364;rlich, daß Leute, die<lb/>
an der Handlung Antheil nehmen und ihren Aus-<lb/>
gang mit Ungeduld erwarten, allezeit ohne ein Wort<lb/>
zu &#x017F;agen da &#x017F;tu&#x0364;hnden; vielmehr erfodert die Ver-<lb/>
nunft, daß &#x017F;ie &#x017F;ich von dem unterreden, was eben<lb/>
dann vorgehet, was &#x017F;ie zu hoffen, oder zu fu&#x0364;rch-<lb/>
ten haben, &#x017F;o oft die Hauptper&#x017F;onen von dem<lb/>
Schauplatz abgetreten, und ihnen darzu Zeit und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Mu&#x017F;&#x017F;e</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0086] Hrn. Vatry Gedancken denheit zu bringen. Zweytens gaben ſie ihm eine gewiſſe Pracht und Hoheit. Drittens vermehre- ten ſie das pathetiſche Weſen in demſelben. Sie brachten erſtlich mehr Ordnung in das Trauerſpiel, indem ſie eine natuͤrliche Folge der verſtaͤndigen Wahl der aufgefuͤhrten Handlung und des Ortes der Scene waren, und uͤberdieß den meiſten Regeln des Theaters zum Grunde die- neten. Sie brachten mehr Verſchiedenheit in daſſelbe, theils an Vorrath von Sachen, theils in Anſehung der Vorſtellung. Bey den Alten war der Platz der Scene allemahl ein oͤffentlicher Ort. Die Zuſeher muͤſſen ſich einbilden koͤnnen, daß ſie bey der Handlung gegenwaͤrtig ſeyn; und wie koͤn- nen ſie ſich dieſes einbilden, wenn ſie ſich in einem Cabinet begiebt? Ueber dieſes muß eine Handlung, wann ſie mit genugſamer Wahrſcheinlichkeit auf den Schauplatz gebracht werden ſoll, landkuͤndig und lautbar ſeyn, ſie muß unter den Vornehm- ſten des Staats begegnen, und von einer Natur ſeyn, daß ein gantzes Volck ſich darum bekuͤmmert. Daher folgt, daß ſie eine groſſe Anzahl Zeu- gen, die ſich derſelben annehmen, an einen Ort verſammeln muß. Dieſe Zeugen formieren den Chor. Es waͤre nicht natuͤrlich, daß Leute, die an der Handlung Antheil nehmen und ihren Aus- gang mit Ungeduld erwarten, allezeit ohne ein Wort zu ſagen da ſtuͤhnden; vielmehr erfodert die Ver- nunft, daß ſie ſich von dem unterreden, was eben dann vorgehet, was ſie zu hoffen, oder zu fuͤrch- ten haben, ſo oft die Hauptperſonen von dem Schauplatz abgetreten, und ihnen darzu Zeit und Muſſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/86
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung10_1743/86>, abgerufen am 21.11.2024.